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Erdwind

Erdwind

Titel: Erdwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Holdstock
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anderen Seite. Alle drei trugen die Jahreszahl 1961. Die Inschriften waren in zwei altertümlichen Sprachen, deren eine die Frühform von Inter-Ling war. Vor langer Zeit hatte Gorstein einmal gefragt, was das eigentlich für Münzen seien. „Sixpence“, hatte Ashka geheimnisvoll und mit offensichtlichem Stolz geantwortet, „sehr seltene europäische Münzen aus dem Fische-Zeitalter. Zwanzigstes Jahrhundert nach Christi.“
    So alt.
    Gorstein betrachtete die Münzen mit Respekt und wärmte sie auf seine Körpertemperatur an. Ihm wurde ein bißchen übel vor Spannung. Sein Herz begann zu rasen, und Ashkas ruhige Gelassenheit schien tausend Meilen weit weg zu sein. Doch schließlich überkam ihn ein tiefinneres Sicherheitsgefühl; es war der Druck der Münzen gegen seine Handflächen in der geballten Faust, ihr bitterer, metallischer Geruch, als er die Faust an die Nase führte, das Geräusch beim Aneinanderreihen der Münzen, während er die gravierte Oberfläche mit den Fingerspitzen abfühlte. So war die Wirkung jedesmal: Die Münzen zogen seine Spannung von ihm ab wie ein Brennpunkt; sie absorbierten seine Emotion auf eine völlig metaphorische Weise. Er öffnete die Hand, blickte auf die feuchten Münzen, den legendären Frauenkopf, die merkwürdigen Runen, deren Sinn sich in dunklen Jahrhunderten verlor … welch eine Kraft, welch eine ehrfurchterregende Kraft steckte in diesen Fragmenten einer fast vergessenen Vergangenheit!
    Wie Ashka ihm vor fast zwei Jahren erklärt hatte, als die beiden enge Freunde geworden und einander nähergekommen waren, als es für den Rationalisten nötig gewesen wäre, um dem jüngeren nützlich zu sein, hatte es eine Zeit gegeben, da man zur Arbeit mit dem Buch der Wandlungen keine Münzen benutzte. Man warf dünne Stäbchen wieder und wieder, und mittels einer komplizierten Routine des Auszählens zu vieren hatte man nach und nach das sechsteilige ying -Zeichen aufgebaut, das die Frage beantwortete. Es war Ashkas größter Wunsch gewesen, einen Satz solcher Stäbchen aufzutreiben, doch hätten die zerbrechlichen Dinger die Strapazen der langen Reisen auch kaum überstanden. Anders als Metall konnte Holz seinen Schatten nur wenige hundert Jahre weit werfen. Metall konnte weiter in die Zeit hineinsehen. Die Stäbchen (Stengel hatte er sie genannt) waren ein bißchen parteiischer, denn bei ihnen kam die yang- Linieein klein wenig öfter als die ying -Linie heraus. Die Alten hatten angenommen, diese Neigung sei die treibende Kraft des ching, doch ihr Verständnis war durch ihr kosmisches Konzept begrenzt gewesen; ein unvollständiges (und oft irrationales) Konzept, denn sie hatten die kosmischen Gezeiten nicht in Betracht gezogen und wenig oder gar nicht die Natur der Zeit selbst; und vor allem hatten sie das Buch der Wandlungen auf eine unpersönliche Art konsultiert und die tieferen Schichten ihres Geistes überhaupt nicht mit herangezogen. Was sie alles versäumt hatten! (sagte Ashka).
    „Wenn du soweit bist …“, sagte der Asiat lächelnd, „… ich habe deine Frage formuliert.“
    „Ja gewiß, ich bin bereit.“
    „Das ist eine Insulare – keine direkte Frage, verstehst du?“
    „Warum keine direkte Frage?“
    „Es gibt hierbei keine direkte Frage, die du stellen könntest. Doch wenn das ching helfen kann, dann wird es helfen, da ich dabei bin. Verstehst du?“
    „Wie lautet die Insulare?“
    „Was ist der Grund für mein Spannungsgefühl?“
    Gorstein schloß die Augen und wiederholte im Geiste die Frage. Fast zehn Minuten lang saß er reglos und schweigend und wiederholte immer wieder die Insulare, überdachte sie in allen ihren Aspekten und Möglichkeiten, auf jedes verborgene Faktum hin – Zukunft und Vergangenheit, innere und äußere Konsequenzen machte er sich deutlich … es war eine sehr einfache, sehr klare Frage; die Antwort würde ein Hinweis auf irgendein Konfliktgebiet sein, das aufgrund seiner in der menschlichen Natur liegenden Veranlagung zum Vorgefühl, zum Spüren von Alternativen auf ihn einwirken könnte. Wenn Ashka den Strom der Möglichkeiten leitete, seine eigene Kraft einspannte, um Gorsteins unbestimmtes, noch nicht voll gegenwärtiges Ahnen zu präzisieren und zu erweitern, könnte die Frage einen relevanten Abschnitt des ching- Textes hervorheben, der ihm eine Idee davon geben würde, was da nicht stimmte.
    Er öffnete die Augen. Der kleine Raum kam ihm dunkel und unruhig vor, die Wände schienen kleine Wellen zu schlagen, Fußboden und

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