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Erdwind

Erdwind

Titel: Erdwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Holdstock
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Kerben und Einschnitten versehen hatte. Er stellte es so auf, daß seine Erdung den Metallstreifen berührte, der am Fuße der Wand entlanglief. Auf der Oberkante des Bildschirms leuchtete ein winziges rotes Kontrollämpchen, welches besagte, daß die Verbindung zur Assoziations-Gedächtnisbank des Schiffes hergestellt war. Dann nahm Ashka einen kleinen roten Beutel heraus, dessen Inhalt er zur Rechten auf die Matte schüttete: kleine, weiße, sehr zerbrechliche Knöchelchen. Seit vielen Jahren trug er sie bei sich. Er hatte sie von einem Schamanen, seinem ersten Lehrer, geerbt, der sie ebenfalls geerbt hatte – und immer so weiter, durch die Jahrhunderte, bevor es Rationalisten gab, bevor man das Rationale Universum überhaupt begriffen hatte. Knochen. Das aus den Gelenken gelöste Rahmenwerk eines kleinen ausgestorbenen Vogels. Gorstein hatte nur einmal gefragt, warum diese Knochen Ashka so wichtig waren und ob sie ein selbständiges Orakel seien. Ashka, damals noch ein paar Jahre jünger, hatte nur gelächelt und dann in aller Ernsthaftigkeit erklärt: „Es sind die Knochen eines ausgestorbenen Erden-Wasservogels, des Moorhuhns, das einst auf den Gewässern des Planeten Erde schwamm, in den Luftströmungen und Winden der Erde flog, die Erde selbst als Nest benutzte, sich mehrere Fuß tief in die Erde eingrub. So ein Vogel war eins mit allen Biotopen der alten Erde, und in seinen Knochen ist die Erinnerung an diese Umwelt. Werfe ich diese Knochen, so bilden sie beim Fallen ein Muster – hier die Wirbelsäule, dort das Brustbein, so die Beine und so die Flügelknochen – oder vielleicht auch anders. Aus ihrer Konfiguration läßt sich vieles herauslesen. Ich benutze sie selten, und nie in meiner Eigenschaft als Rationalist.“ Gorstein hatte den Kopf geschüttelt und, ganz vorsichtig atmend, die tiefsinnigen Ausführungen des Rationalisten in sich einsinken lassen. Als er dabei einen raschen Blick auf Ashka warf, hatte er gerade noch den Schatten eines Lächelns auf den Lippen des Rationalisten erhascht. Nur einen Schatten, der rasch verschwand. Gorstein war etwas pikiert gewesen und hatte nicht wieder danach gefragt. (War dieser harmlose Scherz der Anfang gewesen? Der Beginn der Korrosion …?)
    Das letzte Stück auf der Matte, das wichtigste: eine gebundene Ausgabe des ching, noch in der traditionellen Umhüllung aus schwarzer Seide. Sorgsam legte Ashka es vor sich hin, wickelte es aus, enthüllte das uralte Buch mit den von der Zeit angegilbten Blättern, die mit einer Schutzimprägnierung behandelt waren. Es war in einer altertümlichen Sprache geschrieben, die nur wenige außer den Rationalisten beherrschten, der Sprache, die die Grundlage des komplexeren Inter-Ling bildete, der Universalsprache des Weltalls. In aller Ruhe vollendete Ashka seine subtile Aufstellung; auch seine Hände zitterten jetzt nicht mehr. Gorstein hatte sich abgewöhnt, über die Pedanterie des Mannes zu lächeln, die er bei den traditionellen Vorbereitungen zu den Wandlungen an den Tag legte – übrigens auch bei allen Orakeln, mit denen er arbeitete. Und dabei hatte der Rationalist so gute Erfolge, daß man nicht annehmen durfte, die Tradition sei ohne Bedeutung.
    Gorstein wußte, daß es nicht so sehr darauf ankam, wie oder wo oder unter welchen Umständen die Orakel befragt wurden: Der ausgleichende Einfluß des Rationalisten war wichtiger als alles andere. Zum Teil hing die Konsultation von der fachmännischen Interpretation des Luminariums ab … zum Teil von der Versenkung in den Geist des Fragenden … zum Teil vom Werfen der Münzen … zum Teil von Interferenzen …
    Er ließ seine Zweifel verblassen und kehrte in die Gegenwart zurück, blickte in das gesammelte Gesicht seines Freundes (seit wie vielen Jahren waren sie schon Freunde? Es kam ihm wie ein ganzes Leben vor, doch es waren nur vierzig Jahreszeiten, zehn Jahre von fünfzig!).
    Wie immer, wenn er dem pedantischen Alten zusah, fühlte sich Gorstein unglücklich bei dem Gedanken, daß Ashkas Leben sich dem Ende näherte. Warum hast du das getan, Peter? Warum? Keines Mannes Schicksal gehört nur ihm selber. Du hättest nicht fragen sollen … Die näheren Umstände dieser Befragung hatte er Gorstein nie geschildert. Er hatte nur gesagt, dabei sei fast seine Beziehung zum ching zerstört worden – aber wie es auch vor sich gegangen sein mochte: Ashka hatte eine absolute Voraussage verlangt – er hatte nach dem Zeitpunkt seines Todes gefragt. Und er hatte ihn

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