Erdwind
Kinder …“ – sie betonte dieses Wort – „… miteinander auskommt. Wenn ihr’s schon nicht übers Herz bringt, euch zu lieben, dann hört wenigstens um unser aller wi l len mit euren ewigen Streitereien auf!“
Darren rief etwas, und sie wandte sich um. Er hockte auf einem Felsbrocken und spähte den Hang hinauf in das G e wirr von Bäumen und Steinen, das ihnen für die nächsten paar Me i len den Weg erschwerte.
„Was ist?“ rief sie.
Erregt winkte er ihr, still zu sein. Offenbar hatte er etwas g e hört, höchstwahrscheinlich einen Menschen. Sie suchte die zerrissene Landschaft ab und entdeckte schließlich schwache Bewegungen hinter einem Haufen Felsbrocken. Sofort ve r steifte sie sich; ihr Mund wurde trocken, sie stellte sich vor, daß Gorstein auf einmal vor ihr stünde, bösartig grinsend, ein blitzendes Metallschwert schwang und schrie: „Jetzt findest du’s nie mehr!“
Sie rannte zu Darren hinüber und hockte sich neben ihn. Sie betete, flehte die unsichtbaren Kräfte an, die das Schic k sal formen, es möge nicht Gorstein sein. Sie war noch nicht bereit, ihm entg e genzutreten – noch nicht bereit, mit ihm zu kämpfen und den Tod zu riskieren …
Moir stieß einen warnenden Schrei aus, ganz unvermi t telt, und Darren fuhr in der Hocke herum, verlor beinahe das Gleichg e wicht und sprang dann auf die Füße. Hinter einem großen Fel s brocken erschien Iondai mit erhobenen Händen. Er mußte um die Windung eines natürlichen Pfades geko m men sein, der einen der nächsten Hänge schnitt. Darren en t spannte sich, doch seine E r leichterung war nicht halb so groß wie Elspeths.
„Ich bin allein“, rief der Seher, doch gerade diese Beteu e rung machte Darren mißtrauisch. Er sprang auf einen Block und suc h te die Umgebung ab. Nach einer Weile winkte er und kle t terte wieder herunter.
„Was machst du hier oben?“ fragte er.
Der Alte lächelte nervös. „Ich klettere.“
„Wohin? Zum Tal hinunter?“
Iondai schüttelte den Kopf und sah Elspeth an. „Wo du vermu t lich auch hinwillst“, sagte er.
„Zur Erdwind-Höhle? Ich dachte, die Aerani hätten so große Angst davor? Die beiden hier bestimmt.“
Iondai setzte sich auf den Stein und rieb sich die Augen. „Ich bin müde. Sehr müde. Ich habe nicht halt gemacht, seit ich den crog verlassen habe. Außer als ich hörte, daß ihr hinter mir herkamt“, schloß er mit einem bedeutsamen Blick auf Elspeth. „Und ich habe mich gerade lange genug au f gehalten, um euch dienlich zu sein.“
Sie hatte sich halb und halb gedacht, daß es Iondai gew e sen sei, dort im Tunnel. „Wofür wir dir sehr danken“, en t gegnete sie. „Aber warum gehst du zur Höhle?“
Iondai starrte über das Tiefland. Er hatte die Augen halb g e schlossen, als wolle er mehr in sich aufnehmen als nur den Wind und die Schönheit der Hunderte von Meilen Grünland, das vor ihm lag. Wolken von Schwarzflüglern, die an der Grenze der Marsch aufstiegen, sahen vor dem grauen Hi m mel aus wie Rauch. In der Ferne waren plötzlich schwarze Flecken aufg e taucht; sie spähten angestrengt hinüber und fragten sich, was di e se Panik verursacht haben könnte. Dann sagte Iondai beinahe traurig: „Ich bin verwirrt und bestürzt. So etwas kommt manc h mal vor. Seit vielen Zyklen befrage ich das Or a kel, doch jetzt, zum erstenmal, seit ich in die Höhle gehe, seit ich, noch als ganz junger Mann, die Quelle des Erdwindes gehört habe, fühle ich mich dem Orakel en t fremdet. Irgendwann habe ich irgend etwas falsch gemacht und habe nicht einmal gemerkt, daß da eine St ö rung war. So muß ich also zurückg e hen und noch einmal dem Lied des Erdwindes lauschen. Vielleicht kann ich entdecken, was g e schehen ist, vielleicht kann ich es mit diesem seltsamen Orakel deines Freundes Ashka abstimmen und zu einem neuen Ve r ständnis gelangen.“
Die Erwähnung Ashkas erregte Elspeth, doch ihr fiel auf, daß seine Stimme noch trauriger klang, als er den Namen au s sprach. Darren ging, um irgendein kleines eßbares Tier zu e r jagen, und Moir suchte in einer anderen Richtung nach eßbaren Wurzeln. Elspeth setzte sich neben Iondai und g e noß mit ihm den Blick auf die Landschaft dieser Welt.
„Ist Ashka mit dem Schiff abgefahren? Oder ist er mit Gorstein hiergeblieben?“
„Er ist geblieben“, erwiderte der Seher still, „aber für sich a l lein.“
Trauer umfing sie. „Ist er tot?“
„Ja.“
Wind trocknete ihre Augen, zerstrubbelte ihr Haar und blies ihr alle
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