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Erdwind

Erdwind

Titel: Erdwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Holdstock
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c ke zwischen euch und diesem tao. “
    Ashka lächelte und streichelte das Buch liebevoll. „Ohne dieses Buch wären wir alle nur Treibgut (sein Lieblingsau s druck) … Das ching, das Buch, ist nur ein Gegenstand, doch wenn es g e braucht wird, ist es voller Leben. Ich glaube – oder es wird al l gemein geglaubt –, daß das Buch während des Gebrauches zu etwas Lebendigem wird – zu etwas Fü h lendem irgendwo zw i schen Leben und kaltem Tod.“
    Nachdenklich blickte er auf das Buch und erinnerte sich der Ja h re, die er mit ihm verbracht hatte, an die Tragödien und die Fre u den, die sie miteinander geteilt hatten, sein Buch und er, das Halblebewesen und der engumgrenzte Mensch. Konnte es Zwe i fel darüber geben, daß das Orakel lebendig war – eine r seits die Ausweitung der Bewußtheit des Fragenden, und andererseits die Ausweitung der B e wußtheit jenes großen Unive r sellen –, das ching in zeitlich begrenzter Mittlerfunktion zwischen stofflichem und nich t stofflichem Leben?
    „Unser Geist“, sagte er zu dem still kontemplierenden Iondai, „verbirgt vieles vor unserer Bewußtheit. Wir merken nichts von unserer Intimität mit dem Kosmos – dem tao – , wir können es nicht fühlen, nicht riechen. Tausende von Ja h ren hat der zivil i sierte Mensch geglaubt, er bestehe aus Fleisch und Geist (und der Geist sei tot, wenn der Körper tot ist), und er sei ein Behälter von Reaktionen, ein undurc h dringlicher Sack, der keine Verbindung zu irgend etwas a n derem gestattet als durch physischen Kontakt. Es ist immer noch verzweifelt schwer zu begreifen, daß wir alle nur Staubteilchen auf den rollenden Wogen eines riesigen Oz e ans sind. Ohne daß wir es wissen, reicht unser Geist in di e sen Ozean hinein und artikuliert sich so, daß es die meisten Me n schen gar nicht gewahr werden. Im Traum fassen wir manchmal ein Stückchen in diese wilde Le e re hinein; in der Sprache erleben wir, daß Bewußtwerden an die Oberfläche kommt und sich ei n schleicht in die Art und Weise, wie wir ‚Wörter’ bilden … in die Symbole, durch die wir Gedanken ausdrücken …“
    Iondai lächelte, als Ashka seinen abwesenden Blick auf des S e hers tiefverschattetes Gesicht lenkte. „Mein Freund“, sagte er mit sanfter Stimme, „es tut mir leid – aber jetzt ve r stehe ich nichts mehr.“
    Ashka mußte lachen, als Iondai so um Verzeihung bittend läche l te. „Es ging mit mir durch. Entschuldige.“
    „Schon gut. Mein Orakel, das Lied der Erde, ist viel ei n facher.“
    „Ich würde es gern sehen.“
    „Bald. Dein Interesse an meinem Lied der Erde kann nicht größer sein als mein Interesse an deinem ching.“
    „Gewiß. Möchtest du das ching befragen? Dir würde es bestimmt antworten.“
    „Ich glaube, wir sollten es nachher beide zu Rate ziehen. Es gibt da eine Frage, auf die wir Antwort haben müssen. Du mußt dann diese Antwort deinen Leuten bringen; ich bringe sie meinen. Wir müssen also beide Orakel befragen.“
    Sollte die Mission doch weitergehen? dachte Ashka. A n gesichts der Situation und der unerwarteten Ereignisse auf dem Aeran war das die nächstliegende Frage. Er lächelte verstän d nisvoll.
    „Aber wenn ich dich richtig verstehe“, fuhr Iondai fort, „wird uns dein ching nur sagen, was in der Zukunft gesch e hen kön n te. Es sagt uns nicht, was geschehen wird.“
    „Diese Macht hat kein Orakel“, erklärte Ashka. Er suchte in Iondais Gesicht nach einem Zeichen – irgendeinem Ze i chen – der Verwunderung, doch sah er keins. „So wie das Universum, das uns umgibt, konstruiert ist, gibt es keine Möglichkeit, die Z u kunft zu ‚sehen’. Das Leben ist nicht vorprogrammiert.“
    „Dann könnte dir also dein Orakel nichts von Tod, Feuer, Übe r schwemmung oder Geburt sagen … es befaßt sich nicht mit Dingen, die geschehen werden, sondern nur mit den B e ziehungen eines einzelnen Menschen zu seiner Umwelt.“
    Das konnte Ashka nicht abstreiten. „Insofern als die Me n schen gewöhnlich an Geschehnissen beteiligt sind, kann das ching auch benutzt werden, um die Möglichkeit eines U n heils vorauszus a gen. Was den Tod betrifft …“ Er schwieg und ließ seinen Blick zu dem dunklen Gang wandern, der zum Lied der Erde führte. „Den Tod …“, wiederholte er. Wie seltsam, daß er nie erkannt hatte, wie nahe er bei seiner Todesvoraussage daran gewesen war, von der Regel abz u weichen; es war selbstve r ständlich kein Absolutum – wenn er wollte, könnte er zweifellos seinen Termin

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