Erdwind
entschuldige, wenn ich von Ehrfurcht ergriffen bin –, aber du mußt ein sehr großer Seher sein! Ein Seher, der ein Orakel mit sich herumträgt!“
Ashka lächelte. „Niemand ist groß, und niemand ist g e ringer als groß.“
„Aber das Orakel mit sich herumzutragen!“
„Das hier ist nicht das eigentliche Orakel“, erläuterte Ashka. Hoffentlich war es nicht zu verwirrend für diesen Frühme n schen. „Das ist nur meine Verbindung zum Orakel – mein Z u gang zu ihm. Mittels dieses Buches befrage ich das Orakel selbst.“
„Und wo ist das Orakel selbst?“
„Überall. Das ganze Universum ist das Orakel, der Fluß der Zeit, die Kondensierung der Materie, die geheimen Orte, wo das L e ben entsteht, das Ziehen der Schwerkraft.“
„Ich verstehe nicht.“
„Keiner versteht das, Iondai. Das ching – so nennen wir das Or a kel gewöhnlich – verbirgt seine wahre Natur vor uns, doch es erlaubt, daß wir so nahe an ein Verstehen hera n kommen, daß wir Angst kriegen – Angst vor der Macht des Orakels bedeutet Gla u ben – und Glauben ist alles, was es braucht, um zu wirken.“
„Dann kommt also die Voraussage aus deinem Innern – geht das so vor sich?“
„In einem gewissen Sinne – ja.“ Für Ashka lag es n a türlich auf der Hand, und auch insofern für jedes Kind in Ashkas Welt. Aber bei einem Steinzeit-Schamanen b e deutete diese einfache Feststellung eine großartige Le i stung intuitiven Verstehens. Großartig. „Weit ist das tao“, zitie r te Ashka, „das Erste und das Letzte, universal, immer vorhanden, immer seiend, Zeit und Raum umfa s send, Anfang und Ende, den Menschen und alles Leben, das g e ringer ist als der Mensch.“ Er brach ab und sah Iondai an „Tao ist ein alte r tümliches Wort für Energie und Materie, die um uns und durch uns fließen, um und durch jeden von uns.“
„Winde“, sagte Iondai, „Hitze und Kälte; die Kräfte, die in Steinen und Felsen erscheinen, in der Erde; der eingefa n gene Atem der Zeit … ja, ich verstehe, glaube ich.“
Erdstrom im Felsen …
„Kannst du das wirklich sehen …“ – Ashka war jetzt plöt z lich sehr angetan von des Sehers Worten – „… den Fels, das Leben …“ – Er brach ab. Irgendwie kam ihm das irrelevant vor; er wü r de Iondai später danach fragen. Iondai verstand offenbar die Konzeption des tao, wenn auch in primitiver Form.
Warum diese Angst auf der dritten Ebene seines Geistes? übe r legte Ashka. Sie stand da, eine quälende Ungewißheit, ein Spottgelächter – worauf deutete es hin? Müßte nicht e i gentlich Iondai ihm die Natur der Kräfte und Wandlungen erklären? Leben im Fels, der Fluß der Erdenergie – das sah nur der primitive Geist, oder man sah es nur mit Hilfsmi t teln, die selbst so verfeinert waren, daß sie in eine Dimens i on jenseits des Zugriffs der normalen menschlichen Psyche hinabreichten. Welche Geheimnise barg Iondai hinter seinen Augen, hinter den Knochen und dem Blute seines Schädels? Er und sein ga n zes Volk?
„Ja“, sagte Ashka laut, „diese Kräfte gehören dazu. Die nächtlichen Sterne – auch sie wirken mit ihren eigenen Krä f ten auf ihren Umkreis ein; und zwischen uns und den Ste r nen ist eine Leere, die erfüllt ist vom Echo … anderer Le e ren, von kleinsten Partikeln von Materie, die auch zu and e ren Unive r sen gehören, nicht nur zu unserem – alles dieses bildet eine immense Struktur, die unseren Geist, unser Sein erfüllt und ständig ein- und ausfließt. Wir, die wir bewußt leben, sind auf sehr verzwickte Weise durch unser Leben mit dieser Struktur verbunden, und wir können auf den wechselnden Strömungen dieses mächtigen Flusses schwimmen. Zu bestimmten Zeiten sind wir sehr im Gleic h klang mit der Energie um uns, zu and e ren Zeiten sind wir es nicht. Wir können das physische Gleic h gewicht ziemlich leicht regulieren, indem wir den Strom im Körper umleiten; doch beim Geist ist es schwieriger, und ger a de der Geist trägt uns durch den langsamen Prozeß der Wan d lung. Dieses Buch, das Buch der Wandlungen, sagt uns, wohin wir gehen, und so können wir uns überlegen, welchen Pfad wir ei n schlagen wollen. Es kann vorkommen, daß wir uns genötigt sehen, unsere Beziehung zum tao zu ändern, um Katastr o phen oder Schwierigkeiten zu vermeiden. Da wir eine A h nung vom Trend der Zukunft haben, können wir natürlich gegebenenfalls eine produktivere Beziehung zum tao s u chen.“
„So ist also dieses Buch – mit seinen Symbolen – eine Brü
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