Erdzauber 01 - Die Schule der Rätsel
wohnte, ehe ich nach Hed übersetzte. Er hatte sich gerade das goldene Gewand eines Meisters erworben.«
»Dann ist er vielleicht auf eine Weile nach Hause gegangen.«
Das Schiff hob sich auf einem letzten Wogenkamm, ehe es in den Hafen einlief, dann wurde es langsamer, und die Rufe der Seeleute, die die Segel einholten, schallten über das Deck.
Morgons Stimme klang dünn: »Ich bin gespannt, was er sagen wird.«
Die Seevögel über dem stillen Wasser schössen im Wind wie Weberschiffchen hin und her. Auf den Piers, die an ihnen vorüberglitten, stapelten sich Waren, die verladen werden sollten oder ausgeladen worden waren: Stoffballen, Truhen und Kisten, Holz, Wein, Pelze, Vieh. Die Seeleute winkten Freunden, die am Pier standen; Händler riefen einander zu.
»Lyle Orns Schiff läuft heute abend mit der Ebbe nach Anuin aus«, teilte ein Händler Thod und Morgon mit, ehe sie an Land gingen. »Ihr werdet es an seinen roten und gelben Segeln erkennen. Wollt Ihr Euer Pferd, Herr?«
»Ich gehe zu Fuß«, gab Thod zurück. Als die Planke vor ihnen heruntergelassen wurde, fügte er zu Morgon gewandt hinzu: »Auf der Liste der Meister im Seminar steht ein ungelöstes Rätsel: Wer hat Peven von Aum im Rätselkampf besiegt?«
Morgon schwang sein Bündel über die Schulter. Er nickte.
»Ich werd’ es ihnen sagen. Geht Ihr auch zum Seminar hinauf?«
»Später.«
»Bis zum Abend dann, Ihr Herren«, erinnerte sie der Händler, als sie die Planke hinunterschritten.
Auf der mit Kopfsteinen gepflasterten Straße vor dem Pier trennten sie sich, und Morgon, der sich nach links wandte, folgte einem Pfad, der ihm seit Jahren vertraut war. Die engen Straßen der Stadt waren um diese Mittagszeit dicht bevölkert von Händlern, Seeleuten aus aller Herren Länder, wandernden Musikanten, Fallenstellern, Schülern in den bunten, wallenden Gewändern, die ihren Rang anzeigten, reichgekleideten Männern und Frauen aus An, Ymris, Herun. Morgon, sein Bündel über der Schulter, drängte sich zwischen ihnen hin-durch, ohne sie zu sehen, hörte nicht den Lärm, der ihn um-gab, spürte nicht die Püffe, die ihn trafen. In den Hintergassen wurde es ruhig; der Weg, den er einschlug, wand sich aus der Stadt hinaus, fort von Tavernen und Handelsgeschäften, stieg aufwärts zur Anhöhe oberhalb der funkelnden See.
Hin und wieder begegneten ihm Schüler, die auf dem Weg zur Stadt waren, und ihre Stimmen klangen heiter und selbstsicher. Die Straße machte einen scharfen Knick, dann wurde das Gelände eben, und unter den hohen, funkelnd verzerrten Bäumen tauchte das ehrwürdige, alte Gebäude der Schule auf, aus hohem, dunklem Stein erbaut, massiv und unerschütterlich wie der Fels selbst.
Er klopfte an die vertraute zweiflügelige Tür aus schwerem Eichenholz. Der Türhüter, ein sommersprossiger junger Mann im weißen Gewand des Gesellen, öffnete, ließ einen kurzen Blick über Morgon und sein Bündel schweifen und sagte gewichtig: »Frage und dir soll Antwort gegeben werden. Wenn du auf der Suche nach Wissen gekommen bist, sollst du empfangen werden. Die Großmeister examinieren gerade einen Kandidaten für das Rot des Lehrlings, und sie dürfen nicht gestört werden, es sei denn durch Tod oder Verdammung. Gib mir deinen Namen.«
»Morgon, Fürst von Hed.«
»Oh!« Der Türhüter tippte sich an den Kopf und lächelte. »Tretet ein. Ich will den Großmeister Tel holen.«
»Nein, stört sie nicht.« Er trat ein. »Ist Rood von An hier?«
»Ja; er ist oben im dritten Stockwerk, gegenüber der Bibliothek. Ich führe Euch hin.«
»Ich weiß den Weg.«
Nur durch die breiten Bleiglasfenster, die an den Enden der niedrigen, gewölbten Gänge in die dicken Mauern eingelassen waren, drang das Licht in die Düsternis. Geschlossene Türen folgten zu beiden Seiten des Korridors in langen Reihen aufeinander. Auf einer von ihnen fand Morgon Roods Namen, einge- ritzt in ein Schild aus Holz, darunter fein ziseliert eine Krähe. Er klopfte, erhielt eine unverständliche Erwiderung und öffnete die Tür.
Roods Bett, das etwa ein Viertel der kleinen Steinkammer einnahm, war beladen mit Kleidern und Büchern, und obenauf saß der Prinz von An. Er hockte mit gekreuzten Beinen eingehüllt in eine Wolke des gerade erworbenen goldenen Gewandes und las einen Brief, in einer Hand einen Becher aus dünnem, farbigem Glas, der zur Hälfte mit Wein gefüllt war. Er blickte auf, und angesichts der brüsken, hochfahrenden Bewegung seines Kopfes hatte Morgon, als
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