Erdzauber 01 - Die Schule der Rätsel
wüßte!«
Tristan, die ihm mit seinem Umhang über dem Arm folgte, als er aufbrechen wollte, blieb in der Mitte der großen Stube stehen; ihr Gesicht war ihm fremd in seiner plötzlichen Verletzlichkeit. Sie blickte auf die schlichten, glänzend geriebenen Wände, zog den Stuhl an einem Tisch gerade.
»Morgon, ich hoffe von Herzen, sie kann lachen«, flüsterte sie.
Das Schiff trieb schnell vor dem Wind; Hed wurde immer kleiner, verschwamm in der Ferne. Der Harfenspieler des Erhabenen war gekommen und stand an der Reling; sein grauer Umhang flatterte hinter ihm wie ein Banner. Morgons Augen wanderten zu seinem Gesicht, das ohne Falten war, unberührt von der Sonne. Ein nebelhaftes Gefühl regte sich in ihm, daß da etwas nicht paßte, daß dem silberweißen Haar, der feinen Linienführung des Gesichts ein Rätsel innewohnte.
Der Harfenspieler wandte den Kopf, seine Augen trafen auf Morgon.
»Aus welchem Land kommt Ihr?« fragte Morgon neugierig.
»Aus keinem Land. Ich wurde in Lungold geboren.«
»Der Stadt der Zauberer? Wer lehrte Euch das Harfenspiel?«
»Viele. Meinen Namen nahm ich mir von Tirunethod, dem Harfner des Morgol Cron. Er lehrte mich die Lieder von Herun. Ich bat ihn um den Namen, bevor er starb.«
»Cron«, sagte Morgon. »Ylcorcron?«
»Ja.«
»Er herrschte vor sechshundert Jahren in Herun.«
»Ich wurde nicht lange nach der Gründung von Lungold vor tausend Jahren geboren«, gab der Harfenspieler ruhig zurück.
Reglos saß Morgon auf dem sachte schwankenden Boot. Vor seinem sonnenbeschienenen, stillen Gesicht woben sich feine Lichtfäden über das Meer und rissen ab.
»Kein Wunder, daß Ihr so spielt«, flüsterte er. »Ihr hattet tausend Jahre, um die Harfenweisen aus dem Reich des Erhabenen zu erlernen. Ihr seht nicht alt aus. Mein Vater sah älter aus, als er starb. Seid Ihr der Sohn eines Zauberers?« Zugleich senkte er den Blick auf seine Hände, die um seine Knie geschlungen waren, und sagte, Verzeihung heischend: »Vergebt mir. Das geht mich nichts an. Ich war nur - «
»Neugierig?« Der Harfenspieler lächelte. »Für einen Fürsten von Hed besitzt Ihr unmäßige Wißbegierde.«
»Ich weiß. Deshalb sandte mein Vater mich schließlich nach Caithnard - weil ich das Fragen nicht lassen konnte. Er wußte nicht, wie er es sich erklären sollte. Doch da er ein weiser, gütiger Mann war, ließ er mich ziehen.«
Wieder hielt er inne, recht abrupt diesmal, und sein Mund zuckte leicht.
Die Augen auf das näher kommende Land gerichtet, sagte der Harfner: »Ich habe meinen eigenen Vater nie gekannt. Ich wurde ohne Namen in den Hintergassen von Lungold geboren, zu einer Zeit, als Zauberer, Könige, ja der Erhabene selbst die Stadt durchwanderten. Da ich keinen Landinstinkt besitze und keine Gaben der Zauberei, habe ich vor langer Zeit schon alle Versuche aufgegeben, zu erraten, wer mein Vater war.«
Morgon hob wieder den Kopf. Nachdenklich meinte er: »Da- nan Isig war selbst damals schon alt wie ein Baum, und Har von Osterland auch. Keiner weiß, wann die Zauberer geboren wurden, aber wenn Ihr der Sohn eines Zauberers seid, so gibt es jetzt keinen, der Rechte auf Euch geltend machen kann.«
»Es ist nicht von Bedeutung. Die Zauberer sind verschwunden; außer dem Erhabenen schulde ich keinem lebenden Herrscher etwas. Im Dienst des Erhabenen habe ich einen Namen, einen festen Platz, Freiheit der Bewegung und des Urteils. Ihm allein bin ich verantwortlich; er schätzt mich für mein Spiel auf der Harfe und für meine Verschwiegenheit; beides wird durch das Alter nur besser.« Er beugte sich nieder, seine Harfe aufzuheben, und warf sie sich über die Schulter. »Gleich legen wir an.«
Morgon trat zu ihm an die Reling. Die Handelsstadt Caithnard mit ihrem Hafen, ihren Gasthäusern und Geschäften lag eingebettet im Halbrund einer Bucht zwischen zwei Ländern. Schiffe, deren Segel die flammenden Orange- und Goldtöne der Händler aus Herun zeigten, scharten sich, aus Norden kommend, wie die Vögel an ihren Kais. Auf einer Felsspitze, die ein Hörn der sichelförmigen Bucht bildete, stand ein massiger, dunkler Bau, dessen steinerne Mauern und kleinen Gemächer Morgon wohlvertraut waren. Das Bild des hageren, spöttischen Gesichts von Rendels Bruder tauchte vor ihm auf; seine Hände schlössen sich fester um die Reling.
»Rood. Ich muß es ihm sagen. Ob er wohl auf der Schule ist? Ich habe ihn ein Jahr lang nicht gesehen.« »Ich habe vor zwei Tagen mit ihm gesprochen, als ich im Seminar
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