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Erdzauber 01 - Die Schule der Rätsel

Erdzauber 01 - Die Schule der Rätsel

Titel: Erdzauber 01 - Die Schule der Rätsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia A. McKillip
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eine empfindsame, kundige Hand. Nach einer Stunde stockte sein Spiel. Er betrachtete die Harfe wie nie zuvor, zeichnete jede geschwungene goldene Linie nach, blickte staunend auf die weißen Monde, denen Alter und Meerwasser nichts hatte anhaben können. Behutsam, als hielte er seine Finger an eine Flamme, berührte er die Sterne.
    Am nächsten Tag suchte er sich einen Weg durch das flache, menschenleere Hügelland. Er stieß auf einen Bach, der sich zwischen den Hügeln hindurchschlängelte, und folgte ihm, während er sich durch Eschenhaine und Eichenwälder wand, deren dunkle, kahle Äste unter dem blauen Himmel verschlungene Muster bildeten. Der Bach begann schneller zu strömen, sprudelte über Baumwurzeln und grün bemooste Felsbrocken, führte ihn schließlich aus den Bäumen heraus auf die kahlen östlichen Hänge, über die ständig der Wind hinwegpfiff. Unerwartet sah er vor sich das brettebene Niemandsland der östlichen Gestade, das sich zwischen Ymris und Osterland dehnte, und im Norden die weißen Gipfel der Berge, die am äußersten Ende des Reiches des Erhabenen zum Himmel aufragten, und das weite, grenzenlose Meer.
    Der Bach mündete schließlich in einen breiten Fluß, und Morgon überlegte sich, daß das der Cwill sein mußte, dessen tosende weiße Wasser sich aus dem Weißen See herabwälzten, dem riesigen See in den Tiefen des Ödlands, der auch die sieben Seen von Lungold speiste. Hlurle, erinnerte er sich, lag unmittelbar nördlich seiner Mündung.
    In dieser Nacht schlug er sein Lager auf der Landzunge zwischen dem Bach und dem Fluß auf und ließ sich von den Stimmen der beiden Gewässer einschläfern; die eine tief, geheimnisvoll rauschend; die andere silberhell, freundlich plätschernd. Ruhig lag er am Feuer, den Kopf auf seinem Sattel, streckte nur hin und wieder den Arm aus, um einen Zweig oder einen Tannenzapfen in die Flammen zu werfen. Sachte wie kleine Vögel flatterten Fragen in seine Gedanken, die er nun nicht mehr beantworten mußte; neugierig betrachtete er jede von ihnen, als wäre er ihr nie zuvor begegnet; gelassen sah er sie an, als hätten die Antworten nichts mit ihm zu tun und nichts mit dem weißhaarigen, halbblinden Landerben von Ymris oder dem König von Ymris, in dessen Land zu einem seltsamen Krieg gerüstet wurde; und auch nicht mit der Morgol, die den Frieden ihres Hauses plötzlich von einer Macht gestört gesehen hatte, die keinen Ursprung und keine Erklärung hatte. Im Geist sah er die Sterne auf seinem Gesicht, die Sterne auf der Harfe, die Sterne auf dem Schwert. Er sah sich an, als wäre er eine erfundene Gestalt aus einem alten Märchen: ein Fürst von Hed, der aufgezogen worden war, seine Felder zu bestellen, sich über die vielfältigen Krankheiten von Bäumen und Tieren Gedanken zu machen, das Wetter aus der Farbe einer Wolke zu lesen oder aus der knisternden Spannung eines windstillen Nachmittags; ein Fürst von Hed, der erzogen war für das einfache Leben des Bauern, der keine Neugier kennt. Er sah die gleiche Gestalt im wallenden Gewand eines Schülers von Caithnard, wie sie bis tief in die Nacht hinein über uralten Büchern brütete, während ihre Lippen lautlos Rätsel, Lösung, Lehrsatz, Rätsel, Lösung, Lehrsatz formten; er sah, wie eben dieser Mann eines Morgens aus freien Stücken einen feuchten Turm in Aum betrat und angesichts des Todes erkennen mußte, daß nicht sein Name, nicht seine Lebensweise, nicht das Recht seiner Geburt, sondern nur sein Geist ihn retten konnte. Er sah einen Fürsten von Hed, drei Sterne auf der Stirn, der aus seinem Land fortzog, um in Ymris eine gestirnte Harfe zu finden, in Herun ein Schwert, einen Namen und Zeichen eines Schicksals. Und diese beiden Gestalten aus dem uralten Märchen, der Fürst von Hed und der Sternenträger, standen einander unvereinbar gegenüber; er konnte nichts finden, sie miteinander zu versöhnen.
    Er griff zu einem Zweig und hielt ihn in die Flammen; seine Gedanken wandten sich dem Erhabenen zu, der seinen Sitz im Herz eines jener fernen Berge im Norden hatte. Von Anfang an hatte der Erhabene den Menschen die Freiheit gelassen, ihre eigene Bestimmung zu finden. Sein einziges Gesetz war das Gesetz des Landes, jenes Gesetz, das wie ein Lebenshauch von Landerbe zu Landerbe weitergegeben wurde; sollte der Erhabe- ne sterben oder den Menschen seine unerschöpfliche und unergründliche Macht entziehen, so konnte er sein Reich in eine Wildnis verwandeln. Die Zeichen seiner Macht waren subtil und

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