Erdzauber 01 - Die Schule der Rätsel

Tiergesicht. Morgon drückte sich die Hand auf den Mund, um das Schluchzen zurückzudrängen.
    »Wie hoch ist der Preis«, flüsterte er, »den Ihr für den Verzicht auf das Landrecht zu zahlen bereit seid? Was bietet Ihr mir für den Verzicht? Wie hoch ist der Preis, den Ihr für all jene Dinge zu zahlen bereit seid, die ich je geliebt habe?«
    Die hellen, blitzenden Augen ruhten unverwandt auf seinem Gesicht.
    »Fünf Rätsel«, antwortete Har. »Bares Geld verdient, der nichts hat. Wer ist der Sternenträger, und was wird er befreien, was gefesselt ist? Was wird ein Stern aus der Stille rufen, ein Stern aus der Dunkelheit und ein Stern aus dem Tod? Wer wird am Ende der Zeit kommen, und was wird er bringen? Wer wird die Harfe der Erde zum Klingen bringen, die seit den Anfängen stumm ist? Wer wird Sterne aus Feuer und Eis bis zum Ende der Zeiten tragen?«
    Morgons Hände glitten langsam von seinem Mund. Totenstille war im Saal. Er spürte die Tränen wie Schweiß sein Gesicht hinunterströmen.
    »Was für ein Ende?«
    Der Wolfskönig antwortete nicht.
    »Was für ein Ende?«
    »Das Lösen von Rätseln ist Eure Sache. Suth gab mir diese Rätsel eines Tages, wie ein Mann, der einem Freund sein Herz zur sicheren Verwahrung anvertraut. Seit seinem Verschwinden trage ich sie ungelöst mit mir herum.«
    »Wo hatte er sie her?«
    »Er weiß es.«
    »Dann will ich ihn fragen.«
    Sein Gesicht war blutlos, angehaucht nur vom Feuer; seine Augen, die die Farbe verkohlten Holzes hatten, senkten sich in Hars, schienen in diesem Moment etwas von ihrer Mitleidlosigkeit aus ihnen herauszusaugen.
    »Ich werde diese Rätsel für Euch lösen. Und ich glaube, wenn ich das getan habe, werdet Ihr bis zu Eurem letzten Atemzug wünschen, ich hätte Hed niemals verlassen.«
    Am folgenden Morgen saß er in einer runden, aus Stein erbauten Hütte hinter Hars Haus und wartete darauf, daß das Feuer, das Hugin angezündet hatte, den eisigen Boden mit ein wenig Wärme durchstrahlte. Er trug einen leichten, kurzen Leinenkittel; seine Füße waren nackt. In einer Ecke standen mehrere Krüge mit Wasser verdünnten Weins und einige Becher;
    sonst war nichts da, weder Essen noch Schlafstatt. Die Tür war geschlossen; Fenster gab es keine, nur im Dach war ein rundes Loch, durch das der Rauch aufwärts stieg. Die herabtaumelnden Schneeflocken schmolzen in seiner Wärme.
    Har saß Morgon gegenüber; im flackernden Schein der Flammen wechselte der Ausdruck seines Gesichtes ständig. Hugin, der mit gekreuzten Beinen hinter ihm hockte, war völlig reglos, als atmete er nicht einmal.
    »Ich tauche jetzt in Eure Seele ein«, sagte das Gesicht jenseits des Feuers. »Ich werde die Dinge sehen, die Ihr dort im Verborgenen haltet. Versucht nicht, Euch meinem Eindringen zu widersetzen. Wenn Ihr mir entwischen wollt, so laßt alle Gedanken einfach aus Euch herausfließen wie Wasser, laßt sie gestaltlos und unsichtbar werden wie der Wind.«
    Morgon spürte einen leisen Hauch, der durch seine Gedanken blätterte. Bilder einzelner Momente, vergangener Ereignisse, stiegen auf, ohne daß er sie hervorgerufen hatte: Rood, wie er des Nachts bei Kerzenlicht neben ihm über den Büchern saß; Frau Eriel, die in einem dunklen Saal leise zu ihm sprach, während seine Finger zu der letzten, untersten Saite seiner Harfe glitten; Tristan, die mit schmutzigen Füßen ihre Rosenbüsche goß; Lyra, die zu einem Schwert griff, das in ihren Händen zum Leben erwachte und die Gestalt wechselte. Ohne Widerstand nahm er das befremdliche Wissen um die Anwesenheit eines anderen Geistes in dem seinen hin, bis plötzlich aus der Finsternis seiner eigenen Gedanken die Gestalt eines Mannes emporgeschleudert wurde, einen Speer in der Brust, der die fließenden, ständig sich verändernden, meerfarbenen Linien seines Körpers still hielt, bis das Gesicht einen flüchtigen Moment lang klar und deutlich wurde, ehe er stürzte. Morgon fuhr hoch. Aus den Flammen blickten ihn Hars Augen unverwandt an.
    »Es gibt nichts, dem man nicht ins Auge schauen, nichts, das man nicht ansehen kann. Noch einmal.«
    Erinnerungen zogen in einem Strom ständig wechselnder Bilder hinter seinen Augen vorbei; bei manchen schien Har in seiner Neugier länger zu verweilen. Gemessen nur von der sich häufenden Asche des langsam verglimmenden Holzes verstrichen die Stunden, und Morgon ließ es geduldig geschehen, daß die forschenden Finger des fremden Geistes tief in ihn eintauchten, lernte, sich den Erinnerungen, die