Erdzauber 01 - Die Schule der Rätsel
stand und diesen anstarrte. Seine Hände, die klebrig waren von Blut, schmerzten wieder.
Hugin öffnete die Tür. Das schwache Licht des Mittags lag hell auf dem Schnee auf der Schwelle. Har stand auf. Auch seine Hände zitterten leicht. Er sagte nichts, und Morgon, dem die Seele des Königs so vertraut war wie seine eigene, spürte, wie die panische Angst verebbte und innere Ruhe sich in ihm ausbreitete. Stockenden Schrittes ging er zur Tür und lehnte sich an den Pfosten, während er mit seinem Atem den Wind einsog. Seine schlaff herunterhängenden Hände befleckten seinen Kittel. Er empfand einen merkwürdigen Kummer, als hätte er sich für immer von etwas Namenlosem, das in ihm wohnte, abgewandt.
Har legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Ruht Euch jetzt aus. Ruht Euch aus. Hugin - «
»Ich weiß.«
»Verbinde ihm die Hände. Bleib bei ihm. Ruht Euch beide aus.«
Kap. 9
Während Morgons Hände langsam verheilten, fuhr Har fort, mit ihm zu üben. Morgon lernte, über lange Zeitspannen hinweg die Gestalt der Vesta anzunehmen. Hugin führte ihn durch die Umgebung von Yrye. In den Wäldern, die Yrye umschlossen, nährten sie sich vom Grün und den Zapfen der Fichten, erklommen die steilen Felsen und die Hangwälder des Grimber- ges, der sich hinter Yrye erhob. Anfangs stürzten die Instinkte der Vesta Morgon in Verwirrung; er kämpfte gegen sie wie gegen das Ertrinken und stand dann plötzlich halb nackt im tiefen Schnee, während Hugin, noch immer in der Gestalt der Vesta, an ihm schnupperte und seine innere Stimme in Morgon eindrang.
Kommt, Morgon, laufen wir. Ihr liebt es, über den Schnee dahinzufliegen; davor habt ihr keine Furcht. Kommt, Morgon, laßt die Kälte hinter euch.
Und dann flogen sie Meile um Meile durch die weiße Landschaft, ohne zu ermüden. Ihre Hufe berührten kaum die Schneedecke, während sie mühelos, schwerelos dahinstürmten. Abends, manchmal spät abends, kehrten sie dann nach Yrye zurück und trugen die Stille der starren Winternacht mit sich in den großen Saal, wo Har auf sie wartete, entweder im Gespräch mit Aia oder schweigend dem Spiel des Harfenspielers lauschend, der am Feuer saß. Während dieser Zeit sprach Morgon kaum mit Har; es war, als müßten nicht nur seine Hände heilen, sondern auch eine Wunde in seiner Seele. Und auch Har hüllte sich in Schweigen, wartete, schaute.
Eines Abends schließlich kamen Morgon und Hugin erst spät zurück, und beim unerwarteten Klang ihres Gelächters, das abrupt abbrach, als sie eintraten, mußte Aia lächeln. Morgon schritt ohne Zögern zu Har hin, ließ sich neben ihm nieder, während Hugin aus dem Saal lief, um das Essen zu holen. Mor- gon blickte auf seine Handflächen nieder, in denen weiß das Mal der Vestahörner leuchtete.
»Es ist doch gar nicht so schrecklich, eine Vesta zu sein, nicht wahr?« bemerkte Har.
Morgon lächelte. »Nein. Es ist wunderbar. Diese Stille und der Friede sind wunderbar. Aber wie soll ich das Eliard erklären?«
»Das«, entgegnete Har trocken, »dürfte Eure geringste Sorge sein. Viele sind im Laufe der Jahre zu mir gekommen und haben mich gebeten, sie zu lehren; nur sehr, sehr wenige haben diesen Saal mit den Malen der Vesta auf den Händen verlassen. Ihr habt große Gaben. Hed war eine viel zu kleine Welt für Euch.«
»Wie soll ich das dem Erhabenen erklären?«
»Warum müßt Ihr Eure Fähigkeiten rechtfertigen?«
Morgon sah ihn an.
»Har«, sagte er ruhig, »Ihr wißt, daß ich trotz aller Argumente, die Ihr mir vor Augen geführt habt, dem Erhabenen noch immer als der Landherrscher von Hed verantwortlich bin, ganz gleich, wie viele todbringende Harfner, die aus dem Meer auftauchen, mich den Sternenträger nennen. Und wenn das möglich ist, so möchte ich gern, daß es so bleibt.«
Das Lächeln in Hars Augen vertiefte sich.
»Dann wird sich vielleicht der Erhabene Euch selbst gegenüber rechtfertigen müssen. Seid Ihr bereit, Euch auf die Suche nach Suth zu machen?«
»Ja. Ich habe Fragen an ihn.«
»Gut. Ich glaube, daß er sich in dem Seengebiet nördlich des Grimberges aufhält, am Rande der großen nördlichen Einöden. Dort, jenseits des Berges, ist eine große Herde von Vestas; nur selten geselle ich mich zu ihnen. Überall sonst in meinem Königreich habe ich nach ihm gesucht und nirgends eine Spur von ihm gefunden. Hugin wird Euch dorthin bringen.«
»Kommt mit uns.«
»Das kann ich nicht. Er würde vor mir fliehen, wie er das seit siebenhundert Jahren tut.«
Har
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