Erdzauber 03 - Harfner im Wind
Sie folgten dem Thul auf seinem Lauf zum Meer, schnitten einen dunklen Pfad durch die sterbenden Felder.
Bei Sonnenuntergang erreichten sie Caerweddin; der von windzerfetzten Wolkenstreifen durchzogene Abendhimmel leuchtete wie ein farbenprächtiges Banner. Tausend Feuer umringten die Stadt, als wäre sie unter Belagerung ihrer eigenen Streitkräfte. Doch der Hafen war frei; Handelsschiffe aus Isig und Anuin glitten ihm auf der abendlichen Flut entgegen. Das prächtige Haus der Könige von Ymris, das aus Trümmern der Städte der Erdherren errichtet war, funkelte wie ein Edelstein im letzten Licht. In den Schatten vor seinen geschlossenen Toren gingen die Krähen zur Erde nieder. Dort, auf der leergefegten Straße, wechselten sie die Gestalt.
Sie sprachen nichts, als sie einander ansahen. Morgon zog Rendel an sich, während er sich fragte, ob seine eigenen Augen auch so betäubt waren vor Müdigkeit. Er berührte ihren Geist; und als er dann in das Haus des Königs eindrang, fand er den Geist Astrins.
Der Landerbe von Ymris saß allein in einem kleinen Gemach, als Morgon vor ihm auftauchte. Er hatte gearbeitet; Landkarten, Dokumente, Nachschublisten und alle möglichen anderen Papiere lagen auf seinem ganzen Schreibpult zerstreut. Doch die Kammer lag beinahe in Dunkelheit, und er hatte keine Kerzen angezündet. Sein von Sorgen durchfurchtes, bleiches Gesicht starrte ins Feuer. Morgon und Rendel, die von der Straße in die verschwommenen Schleier von Licht und Schatten traten, erschreckten ihn nicht einmal. Er starrte sie einen Moment lang an, als besäßen sie nicht mehr Substanz als seine Hoffnung. Dann aber wandelte sich sein Gesicht; er sprang auf, so daß sein Stuhl hinter ihm krachend umkippte.
»Wo seid Ihr gewesen?«
Erleichterung, Anteilnahme und gereizte Ungeduld mischten sich in seiner Frage.
Morgon antwortete schlicht: »Ich habe Rätsel gelöst.«
Astrin kam um sein Schreibpult herum und drückte Rendel in einen Sessel. Er gab ihr Wein zu trinken, und die Starrheit in ihrem Gesicht löste sich langsam. Astrin, der halb kniend neben ihr hockte, blickte ungläubig zu Morgon auf.
»Wo seid Ihr hergekommen? Ich habe unentwegt an Euch und Heureu gedacht - nur an Euch und Heureu. Ihr seid dünn wie ein Dolch, aber wohlbehalten. Ihr seht aus - wenn ich je einen Menschen gesehen habe, der wie eine Waffe aussieht, dann seid Ihr es. Ich spüre das stumme Grollen ungeheurer Kräfte in diesem Zimmer. Woher habt Ihr sie?«
»Von überall aus dem Reich.«
Er schenkte sich Wein ein und setzte sich.
»Könnt Ihr Ymris retten?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht. Ich weiß es wirklich nicht. Ich muß Yrth finden.«
»Yrth! Ich dachte, der wäre bei Euch.«
Morgon schüttelte den Kopf.
»Er ist davongegangen. Ich muß ihn finden. Ich brauche ihn.«
Seine Stimme war zu einem Flüstern herab gesunken. Er starrte ins Feuer, der Becher in seiner Hand erglühte golden. Astrins Stimme traf ihn wie ein Schlag, und er merkte, daß er beinahe eingeschlafen war.
»Ich habe ihn nicht gesehen, Morgon.«
»Ist Aloil hier? Sein Geist ist mit dem Yrths verbunden.«
»Nein, er ist bei Mathoms Heer. Es steht in den Wäldern an der Handelsstraße. Morgon!«
Er beugte sich vor, um Morgons Schultern zu fassen und ihn aus seiner plötzlichen, überwältigenden Verzweiflung herauszurütteln.
»Die ganze Zeit war er an meiner Seite, wenn ich nur Gespür genug gehabt hätte, mich umzudrehen und ihm ins Gesicht zu sehen, anstatt seinen Schatten über das ganze Reich zu verfolgen. Ich habe mit ihm auf der Harfe gespielt, ich habe an seiner Seite gekämpft, ich versuchte, ihn zu töten, und ich habe ihn geliebt, und in dem Augenblick, als ich ihn erkenne, verschwindet er und läßt mich zurück, so daß mir nichts anderes übrigbleibt, als ihn von neuem zu verfolgen.«
Die Umklammerung von Astrins Händen wurde plötzlich schmerzhaft.
»Was sagt Ihr da?«
Morgon, der sich erst jetzt bewußt wurde, was er gesagt hatte, starrte ihn nur stumm an. Wieder sah er das seltsame, farblose Gesicht, das sich über ihn geneigt hatte, als er sprachlos und namenlos in einem fremden Land erwacht war. Der Krieger vor ihm mit dem dunklen, knappsitzenden Kittel und dem Kettenhemd darunter, wurde wieder der Halbzauberer, der in einer Hütte am Meer wohnte und über den Trümmern der Stadt auf der Ebene der Winde Rätseln nachspürte.
»Die Ebene der Winde.« flüsterte er. »Nein. Er kann nicht ohne mich dorthin gegangen sein. Und ich bin noch
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