Erfindergeist
während mir die Tränen in die Augen schossen. »Ist das wahr? Was ist passiert? Reden Sie!«
»Seine Werkstatt ist explodiert«, erklärte der Student nun sachlich. »Es liegt alles in Schutt und Asche. Die Feuerwehr hat gerade die letzten Brandnester gelöscht. Hier sieht es furchtbar aus.«
Ich war wie gelähmt. Zitternd fragte ich mit einem letzten Quäntchen Hoffnung nach: »Hat man Jacques schon gefunden?«
Becker zögerte zunächst etwas mit der Antwort. »Ja. Vielmehr das, was von Ihrem Freund übrig geblieben ist, und das ist wirklich nicht viel. Oh, Herr Palzki, es tut mir ja so leid.«
Was er sonst noch zu mir sagte, bekam ich nicht mehr mit. Wie in Trance stand ich da, unfähig, irgendeinen meiner Sinne zu benutzen.
J A C Q U E S I S T T O T !
Selbst Minuten später, während mir die Tränen über die Wangen liefen, hielt ich den Hörer immer noch fassungslos in meiner Hand. Ich wusste nicht, ob Becker noch in der Leitung war, es war mir egal.
Obwohl ich unter Schock stand, stieg ich in meinen Wagen. Ich musste unbedingt alles mit eigenen Augen sehen. Meinen Freund, den Erfinder, kannte ich schon von Kindesbeinen an. Wir waren Nachbarn gewesen und ich besuchte ihn häufig in seiner Werkstatt. Damals lebte seine Frau noch; sie ließ ihn meist allein in seinem Reich vor sich hinwerkeln. Jacques Bosco war einer der letzten Allgemeingelehrten der Menschheit. Er machte sagenhafte Erfindungen, die meist aufgrund seiner Bescheidenheit Jahre später von einem anderen ein zweites Mal erfunden und erfolgreich vermarktet wurden. Nur von wenigen Entwicklungen profitierte er selbst. Er hatte sehr zurückgezogen in seiner eigenen Welt gelebt.
Als Kind hatte ich viel Spaß mit Jacques. Er war mir in zahlreichen Dingen nicht nur ein guter Lehrer, er verhalf mir während meiner Schulzeit auch mit so manchem Spezialeffekt zu einem gewissen Renommee als Zauberer. Wenn ich im Chemiesaal mitten im Unterricht für blauen Bodennebel sorgte oder der Kopierer im Lehrerzimmer unabhängig von der Vorlage oder der bedienenden Person entweder den Text ›Sie sind nicht berechtigt, dieses Gerät zu bedienen‹ oder ›Bitte dringend Schokoladeneis nachfüllen‹ ausspuckte, wusste jeder, dass ich meine Finger im Spiel hatte.
Schlagartig nahm ich meine Umgebung wieder wahr. Ich hatte keine Erinnerung mehr an die bereits zurückgelegte Strecke und erschrak über meine geistige Abwesenheit. Dem Kestenbergerweg wurde vor rund 20 Jahren im Zuge des Wegfalls beschrankter Bahnübergänge die direkte Verbindung zur Innenstadt genommen. Seitdem musste man die neu gebaute Unterführung und damit einen kleinen Umweg in Kauf nehmen, um die Sackgasse vom anderen Ende her zu erreichen.
100 Meter vor Jacques’ Haus war kein Durchkommen mehr möglich. Einsatzfahrzeuge aller Art füllten jede noch so winzige Parkmöglichkeit. Ohne lange darüber nachzudenken, hielt ich in der Hofeinfahrt eines beliebigen Hauses und lief zum Ort des Geschehens. Menschenmassen drängten sich hinter dem rot-weißen Absperrband. Von hier aus war, außer einigen sich hartnäckig haltenden Rauchschwaden, nichts weiter zu erkennen. Jacques’ Haus stand noch. Seine Werkstatt lag von der Straße aus gesehen dahinter und war nur über einen kleinen Durchgang zwischen Wohngebäude und Garage zu erreichen.
Ich duckte mich, um unter dem Band durchzuschlüpfen, was ein Beamter sofort bemerkte. Da wir uns vom Sehen her kannten, nickte er mir nur kurz zu und ließ mich passieren. In der Hofeinfahrt stand ein Drehleiterfahrzeug der Feuerwehr. Ich drückte mich am Vorgartenzaun und dem Fahrzeug vorbei und erreichte den Durchgang. Der Anblick, der sich mir nun bot, versetzte mir den nächsten Schock. Was für eine heftige Detonation musste das gewesen sein? Die Werkstatt war dem Erdboden gleichgemacht, von der Garage stand nur noch ein Meter und erinnerte mich an die Geschichte von den Potemkinschen Dörfern. Sämtliche Fensterscheiben auf der Rückseite des Hauses waren zerborsten. Etwa die Hälfte des Daches war abgedeckt. Zwei Feuerwehrleute liefen im Hintergrund immer noch umher und löschten im Acker, der sich an das Grundstück anschloss, kleinere, sich selbst entzündende Brandherde. Im Garten, oder vielmehr dem, was von ihm übrig geblieben war, entdeckte ich meinen Kollegen Gerhard Steinbeißer, der mit Dietmar Becker redete. Becker schien Verbrechen und Katastrophen magisch anzuziehen. Bei meinen Ermittlungen lief er mir ständig über den Weg.
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