Erfolg
schaffen? »Wie braun du bist, Johanna«, sagte er wohlwollend, gewiß ohne Ressentiment, eher amüsiert. Aber ihre Befangenheit hörte doch etwas wie einen Vorwurf heraus. Schließlich erzählte sie ihm von gewissen Theorien Kaspar Pröckls über den Einfluß des Films, des bewegten Bildes, auf die Malerei, und wie das Gefühl des bewegten Bildes die Aufnahmefähigkeit des Beschauers für das ruhende Bild nachdrücklich ändern müsse. Martin, unvermittelt, erzählte, das einzige, was er wirklich vermisse, sei der Anblick gewisser Filme. Er sehne sich nach Tierfilmen. Er sprach von seiner Lektüre von »Brehms Tierleben«. Von den Lemmingen, dieser gedrungenen, stutzschwänzigen Wühlmausart, mit ihren kurzen, im Pelz versteckten Ohren und ihrem trippelnden Gang. Er sprach von ihren rätselhaften Wanderungen, wie sie, in ungeheure Scharen zusammengedrängt, plötzlich, wie vom Himmel gefallen, in den Städten der nordischen Ebene erscheinen und sich durch keinen Fluß oder See, selbst durch das Meer nicht von weiterem Vordringen abhalten lassen. Diese vielberedeten, verhängnisvollen, in ihren Motiven nicht recht aufgeklärten Wanderungen, bei denen alle die Wandernden durch ungünstige Witterung, durch Pest, durch Wolf, Fuchs, Marder, Iltis, Hermelin, durch Hunde oder Eulen zu Tode kommen, beschäftigten ihn sehr. Es sei nach Brehm zweifellos nicht richtig, meinte er mit einem kleinen Lächeln, daß Nahrungsmangel, daß ökonomische Ursachen Grund dieser Völkerwanderungen seien. Dann redete er, ein bißchen nachsichtig, von den Theorien Kaspar Pröckls. Der Wärter,endlich hinhörend, war erstaunt, daß der Mann unter diesen Umständen mit seiner Frau über solche Dinge sprach.
Martin erzählte dann von dem Plan eines großen Buches über das Bild »Josef und seine Brüder«. An diesem Bild wollte er seine Anschauungen entwickeln über den Sinn, den Kunst in diesem Jahrhundert haben könne. Auch erzählte er, wie er einmal in letzter Zeit eine neue, große Idee gehabt habe, eine so neue Idee, daß er schwerlich jetzt Verständnis dafür hätte finden können. Ausgesprochen hätte er trotzdem diese Idee sehr gerne, sie hinausgeschickt als eine Flaschenpost gewissermaßen an einen Zukünftigen. Allein als er die Idee fand, war ihm just zur Strafe ein Schreibverbot auferlegt worden. Er hatte kein Papier, er konnte seine Idee nicht aufschreiben. Sie war aber organisch verbunden mit ihrer Formulierung, mit dem präzisen Wort. Sie starb ab ohne ihr Wort wie die Schnecke ohne ihr Haus. Er merkte, wie seine Idee ihm verschwand. Sie war ihm deutlich gewesen; jetzt war sie fort; er wird sie so bald nicht wiederfinden. Er erzählte das freundlich, ohne Zorn und Bedauern, mit einer so dünnen, fleischlosen Freundlichkeit, daß es Johanna kalt wurde davor. Der Wärter stand verständnislos daneben.
Johanna war froh, wie die Stunde um war und sie sich verabschieden konnte. Sie ging durch die Korridore, schneller, immer schneller, zuletzt lief sie fast. Sie atmete hoch, als sie draußen stand, sie atmete dankbar die frostige Luft der flachen Landschaft, schritt befreit, beinahe fröhlich durch das Gemisch von Regen und schmutzigem Schnee die Straße zum Bahnhof.
17
Der Reliquienschrein des Cajetan Lechner
Der Altmöbelhändler Cajetan Lechner, Geschworener seinerzeit im Prozeß Krüger, fuhr in einem Wagen der blauen Straßenbahn von der inneren Stadt nach seiner Wohnung amUnteranger. Der fünfundfünfzigjährige Mann, feist, rundschädelig, rotblonder Schläfenbart, Kropf, machte ein beschäftigtes, verdrießliches Gesicht, schneuzte heftig in sein blaugewürfeltes Taschentuch, schimpfte vor sich hin über die Saukälte, suchte die in Wollhandschuhen steckenden Hände, die in Gummistiefeln steckenden Füße durch Bewegung zu erwärmen. Er trug unter einem rehbraunen Mantel einen schwarzen, langen, dickstoffigen Rock, der ihm seit vielen Jahren bei würdigen Gelegenheiten diente; denn er kam von einer äußerst wichtigen Unterredung, noch dazu mit einem Ausländer, einem Holländer. Er hatte lange geschwankt, ob er nicht auch den Zylinder aufsetzen solle; aber der war ihm schließlich zu feierlich erschienen, so hatte er sich mit dem werktäglichen, grünen Lodenfilzhut begnügt, der nach der Landessitte mit einem Gamsbart geschmückt war.
Am Unteranger angelangt, sah er, daß von seinen Kindern keins zu Hause war. Er vertauschte die nassen Gummistiefel mit Pantoffeln, den feierlichen, dickstoffigen Rock mit einer
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