Erfolg
Wieso eigentlich? Die Definition dieses alten Bürgers Aristoteles ist doch immer noch die beste: Sinnder Kunst ist die Reinigung von Furcht und Mitleid. Psychoanalyse ist eine der Ausfluchten des untergehenden Bürgertums. Dieser alte Aristoteles verstand verdammt viel von Psychoanalyse. Kunst ist das bequemste Mittel, gewisse gefährliche Triebe, als da sind Furcht, Mitleid, Gewissen, zu reinigen, sie loszuwerden. Eine schlaue, bequeme, listige Art. Ist sie nicht zu schlau, zu listig, zu bürgerlich?
Eigentlich ist man ein Schwein. Es stimmt: es ist nicht die Zeit, sich ein kompliziertes Privatleben zu leisten. Charakterköpfe sind außer Mode. Aber da schreit er diesen armen Benno Lechner an, Privatkonflikte seien uninteressant, und er selber sitzt da mit seinem Charakterkopf. Und er betrachtete aus finstern, tiefliegenden Augen die finstern, tiefliegenden Augen des westöstlichen Gleichen, die scharfe Nase, den mächtigen Adamsapfel, die starken Jochbogen.
Ja, Kunst ist eine verdammt billige Methode, sich seiner Leidenschaften zu entledigen. Der alte Plato, freilich ein Großkopfiger, ein Oberaristokrat, aber ein schlauer Hund, wußte schon, warum er die Dichter aus seinem Staat verbannte. Billiger als durch Ästhetik kann man seine Verpflichtungen gegen die Gesellschaft wirklich nicht loswerden. Es ist eine zu billige Art, mein Lieber. Die guten Triebe, Kampflust, Empörung, Mordlust, Ekel, Gewissen, sind unbequem. Aber gerade dazu sind sie da, daß sie einen nicht in Ruhe lassen. Sie durch Kunst abreagieren, das könnte manchem passen. So einfach geht es nicht. Diese Triebe wollen praktisch verwendet sein: für den Klassenkampf.
Nein, Herr Ingenieur Kaspar Pröckl, Sie machen’s sich zu leicht. Von den andern verlangen Sie, daß sie auf Privatleben verzichten. Verzichten Sie auf Würde ? Bequemen Sie sich zu dem Herrn Reindl? Gehen Sie nach Rußland? Da sitzen Sie, allein, bei verschlossener Tür, höchst privat. Schreiben Balladen, machen Kunst. Schlemmen Kunst. Wer hat Ihnen das erlaubt?
Das darf sich vielleicht der Dr. Martin Krüger leisten, weil er im Zuchthaus sitzt, in einer unbehaglichen Situation. Oderwenn man sich in den Hafen der Irrenanstalt zurückgezogen hat. Der Maler Landholzer darf sich das vielleicht leisten. Aber der Schriftsteller Jacques Tüverlin, der in der Villa Seewinkel sitzt, mit der Frau des Martin Krüger, und ein Hörspiel »Weltgericht« schreibt, mit dem er obendrein noch dicke Dollars verdient: pfui Teufel über so ein bequemes Schwein.
Er will nicht sein wie der Schriftsteller Jacques Tüverlin.
Er setzte sich an seine Schreibmaschine, deren E und X immer noch nicht funktionierten, und schrieb folgendes:
»Marschorder für Kaspar Pröckl, einen Bolschewiken, ausgestellt am 19. Dezember.
1. Sie haben sich zu dem Kapitalisten Andreas Reindl zu begeben und mit allen Mitteln zu trachten, von ihm als Chefkonstrukteur nach Nishnij Nowgorod geschickt zu werden.
2. Sie haben mit allen Mitteln, vor allem durch die Hilfe des genannten Kapitalisten Reindl, dahin zu wirken, daß der Strafgefangene Martin Krüger aus dem Zuchthaus entlassen wird.
3. Sie haben an das Mädchen Anna Lechner die Frage zu stellen, ob sie in die Partei eintreten und mit Ihnen nach Rußland gehen will.«
Der Ingenieur Kaspar Pröckl, als er dieses schrieb, erinnerte sich nicht, daß einmal in seiner Gegenwart der ihm verhaßte Schriftsteller Jacques Tüverlin sich selber gewisse ästhetische Richtlinien mittels einer Postkarte mitgeteilt hatte.
Er öffnete den eisernen Ofen, den die Anni vorsorglich, bevor sie gegangen war, nachgefüllt hatte. Hinein warf er die Blätter mit den Balladen. Ihnen nach das Manifest des Malers Landholzer, die Zeichnung »Der Westöstliche Gleiche«, zuletzt die Holzskulptur »Das Bescheidene Tier«. Dann, ohne zuzuschauen, wie es verbrannte, setzte er sich an den großen Zeichentisch, an seine Konstruktionen.
18
Einer klettert am Gitter seines Käfigs
Die Strafanstalt Odelsberg war früher ein Kloster gewesen; das Refektorium war jetzt Kirche. Am Weihnachtsabend saßen die Gefangenen in den Bänken, es wurde gesungen, der Direktor hielt eine Rede. Kerzen brannten auf einer Tanne. Hinten standen Einwohner der Ortschaft Odelsberg, zumeist Frauen und Mädchen. Die Braunberockten schielten nach ihnen, froh der seltenen Gelegenheit, Weiber zu sehen. Die Rede des Direktors klang schal, der Gesang war schlecht, die Tanne und ihre Lichter dürftig. Aber die Gefangenen waren
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