Erfolg
Messerschmidt nicht sechsundzwanzig Tage zu früh hätte fortmüssen, wenn von so vielen Geschehnissen nur eines hätte verhütet werden können: es hätte genügt, dann immer wäre Martin frei. Hinter soviel glücklichen, hinter soviel fatalen Geschehnissen, wo stak der Sinn?
Was sie getan hat, war nutzlos gewesen. Doch wenn sie es nicht getan hätte, wären die Ereignisse nicht gekommen, die Martin dann geholfen haben. Aber sie haben ihm ja leider nicht geholfen. Aber doch nur, weil seine Kraft nicht ausgereicht hat, haben sie ihm nicht geholfen. Nein, weil sie es an der nötigen Kraft und Intensität hat mangeln lassen. Aber hatte sie ihn nicht, schon bevor die ganze Geschichte ins Rollen kam, gewarnt, er solle sich nicht einlassen mit dieser Anna Elisabeth Haider? Sie hat schon das rechte Gefühl gehabt, ihm fehlten die Fühler.
Johanna in ihren Nächten haderte mit dem toten Krüger. Sie stand in der winzigen Zelle, die Heizrohre knackten, sie wollte Antwort haben von dem graugelben Gesicht. Sie redete ein auf den starren Mann, sie wollte bestätigt haben, daß an seinem jämmerlichen Ende nicht sie schuld sei. Aber das graugelbe Gesicht rührte sich nicht; es blieb fest in der gleichen, unmilden Ruhe.
Es lag nicht an ihm, es lag nicht an ihr. Es war dies: jede Tat, ob heiß oder lau, ob gegen die Natur des Täters oder aus ihr, ist blind, ist eine der sechsunddreißig Nummern der Roulette. Es ist undurchschaubarer Zufall, ob sie gesegnet ist oder nicht.
Was Johanna getan hat, war weder gut noch böse. Es war neutral, gleichgültig, blieb ohne Folgen. Ob es geschah oder ob es nicht geschah, änderte nichts. Sie war herumgelaufen bei den Verwaltern der Gerechtigkeit, bei Richtern und Anwälten, hatte die Wahrheit gesagt nach Bedarf, hatte gelogen nach Bedarf, hatte diese verfluchten gesellschaftlichen Beziehungen gesucht, war in den Schmutz gesprungen, wenn es dienlich schien, hatte vor den offiziellen und den heimlichen Regenten getrotzt und gebarmt, hatte getan, was getan werden konnte: der Apparat war stärker, die Maschine war weitergelaufen. Aber weil Jacques für Herrn Pfaundler eine Revue schrieb, und weil ein Musiker, dessen Namen sie nicht kannte, für diese Revue einen Schlager machte, und weil einem Dollarscheißer auf der Durchreise dieser Schlager gefiel, und weil ihm Jacques’ Daherreden gefiel, und weil diesem Jacques ihr breites Gesicht und ihre stumpfe Nase gefiel: darum, um ein Haar, wäre Martin freigekommen. Freilich nur beinahe. Freilich nur um ein Haar. Immerhin, ohne daß sie sich anstrengten, mit dem kleinen Finger erreichten dieser Musiker, dieser Amerikaner, dieser Jacques mehr als sie mit den sinnvollen Anstrengungen vieler Monate. Kein Mensch kann sich da zurechtfinden, so irrsinnig verfilzt ist alles. Da war Pech, da war Glück: wo war da Schuld?
Und doch, da war Schuld. Es gab ein Konto, auf dem galtnicht Erfolg und Mißerfolg. Auf dem galt nichts als die Kraft, als die Anspannung, die einer in eine Handlung steckte. Kluge Leute mochten sagen: Martin Krüger starb, weil die Justizpflege schlecht war und der Strafvollzug barbarisch. Kluge Leute mochten sagen: Martin Krüger starb, weil die Bestandteile seines Blutes, weil die Kammern seines Herzens so beschaffen waren und nicht anders. Sie wußte: er wäre nicht gestorben, wenn sie an seine Befreiung mehr Kraft und mehr Willen gesetzt hätte.
Unterdessen fuhr aus dem Westen zurück auf einem großen Meerschiff der Schriftsteller Jacques Tüverlin. Er hatte kurz vor seiner Abreise erfahren von dem Tode Martin Krügers. Es lag nahe, Betrachtungen daran zu knüpfen über Schicksal, Zufall, Erfolg. Es gab damals eine Lehre, die sich historischer Materialismus nannte. Diese neue praktische Geschichtsschreibung prätendierte, alles menschliche Geschehen sei bestimmt durch ökonomische Gesetze. Sie ließ die Menschen nicht als Individuen gelten, sondern nur als Exponenten wirtschaftlicher Verhältnisse. Ein Unerforschbares im historischen Ablauf wollte diese Lehre nicht wahrhaben. Das Zufällige, erklärte ihr bester Schriftsteller, Leo Trotzki, helfe diensteifrig dem Gesetzmäßigen. Die historische Gesetzmäßigkeit verwirkliche sich durch die natürliche Auslese der Zufälle. Die bewußte menschliche Tätigkeit unterwerfe die Zufälle einer künstlichen Auslese.
Jacques Tüverlin fand die finstere Intoleranz, mit der die Anhänger dieser Lehre ihre Katalogisierungsmethode als die einzig mögliche gelten lassen wollten, etwas
Weitere Kostenlose Bücher