Erfolg
offiziellen Vereinigungen blieben abseits. Der Polizeipräsident veröffentlichte eine Erklärung, er werde nicht zulassen, daß die Leichenfeier zu einer Demonstration ausarte. Aus einer Unterredung der Verantwortlichen im Ministerium wurde ein Wort kolportiert: »Die Toten sollen das Maul halten.«
Johanna, begleitet von Kaspar Pröckl und der Tante Ametsrieder, fuhr zum Östlichen Friedhof. Die Straßen waren schwarz von Menschen. Polizei sicherte mit starken Kräften die Ludwigsbrücke, die Corneliusbrücke, die Reichenbachbrücke, alle Zugangsstraßen zum Friedhof.
Johanna stand in der Halle des Friedhofs, schwarz gekleidet, das bräunlichweiße Gesicht starr, die Oberlippe eingeklemmt. Die Menschen preßten sich in dem großen Raum. Johanna sah Gesichter, Kränze, Gesichter, Kränze. Sie stand steif und hölzern. Man hielt Reden, legte Kränze nieder. Johanna sah die Menschen, hörte die Reden. Stand immer gleich steif, unbewegt. Den Leuten, wenn sie in dieses breite, starre Gesicht sahen, wurde es unbehaglich.
Da lag er, viele Blumen lagen über ihm, die Blumenverkäufer hatten gute Geschäfte gemacht. Viele berühmte Leute hielten Reden, die wahrscheinlich mit vieler Mühe ausgefeilt waren. Sie sprachen viel von der Bedeutung des Toten, von seinen Büchern, von seiner Leistung. Ein wenig auch von seinem tragischen Ende. Nicht aber sprachen sie von dem Unrecht, das an ihm getan war; denn das war verboten. »Die Totensollen das Maul halten«, hatte einer verfügt. Johanna stand da, sie sah und sie hörte, sie sah nicht und sie hörte nicht. Die Toten sollen das Maul halten. Das erbitterte sie. Das durfte nicht sein, daß einer so was verfügen konnte. Das war ein Ärgernis, das muß geändert werden. Sie dachte angestrengt nach, wie man es ändern könnte. Wie einer wohl in einem Traum eine Aufgabe hat, er kann sie nicht erfüllen, aber er muß sie doch erfüllen, und er versucht tausend Mittel, und dann das tausendunderste, so, während man Reden hielt und Kränze niederlegte, kurbelte Johanna ihr Gehirn an, immer von neuem, und quälte es ab, wie man erwirken könnte, daß dieser Tote den Mund aufmacht.
Man redete, legte Kränze nieder, sang. Es wird gar nicht einfach sein, dachte Johanna, es wird verflucht hart sein, aber ich werde es schaffen. Kränze, Reden. Ich werde es schaffen, beschloß sie. Dieser Tote wird den Mund nicht halten. Das wird sie beweisen, das wird sie den Herren Hartl und Flaucher ins Gesicht hinein beweisen.
Als der Sarg hinausgetragen wurde und die Versammlung auseinander ging, gewahrte Johanna, daß auch Dr. Gsell und Ministerialrat Förtsch da waren. Ja, die beiden Herren, gerade im Gefühl ihrer Sicherheit und Unschuld, wollten zeigen, daß sie wußten, was sich gehört. Sie hatten sich mit dem Martin Krüger, solange er lebte, über die Pflicht ihres Amtes hinaus befaßt. Sie wollten nicht fernbleiben in der Stunde, da sein Leib zu Asche werden sollte.
Johanna war schuld an Martins Tod. Sie hat sich nichts vorgemacht, sie hat das dem graugelben Gesicht zugestanden, als sie mit ihm allein war. Sie will sich nicht davor drücken, sie wird die Konsequenzen auf sich nehmen. Aber dieser elende Förtsch hat gewußt um die Krankheit Krügers, sie hat ihn rechtzeitig informiert, und es war eine Frechheit, daß dieser Mensch hier war, und sie hat lange genug an sich gehalten, und jetzt will sie nicht mehr. Sie trat auf die beiden zu, das Gesicht weiß unter dem schwarzen, schleierlosen Hut. Sie sah den Dr. Gsell an, und sie sagte nichts. Dann schaute sie denKaninchenmäuligen an, gradaus in seine Augen, und sagte, nicht laut, doch sehr deutlich: »Sie sind ein gemeiner, niederträchtiger Mensch, Herr Förtsch.« Es standen viele Leute herum und schauten auf sie und hörten zu. Der Kaninchenmäulige stammelte etwas. Johanna sagte: »Schweigen Sie.« Und sie wiederholte klar, unüberhörbar: »Sie sind ein Lump, Herr Förtsch.«
3
Deutsche Psychologie
Wenn der Amerikaner vier Wochen kürzer in Rußland geblieben wäre, wenn er vier Wochen früher mit Jacques gesprochen hätte: es hätte genügt, Martin Krüger lebte und wäre frei. Wenn Jacques vor seiner Abreise zu ihr gesprochen hätte: es hätte genügt, Martin wäre frei. Wenn Martin nicht das Bild der Anna Elisabeth Haider in die Galerie gehängt hätte, wenn nicht die Franzosen die Ruhr besetzt und die Esel um Kutzner ihre Nebenregierung aufgerichtet hätten, wenn der Minister Klenk nicht gestürzt wäre, wenn der Minister
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