Erfolg
Tänzerpaaren rankten sich die Wände entlang; Kaffeetassen klirrten. Der milde, weiße Bart des Justizministers hob, senkte sich, seine onkelhaften Augen beschauten wohlwollend Johannas bräunliches, breites Gesicht; verstanden und verziehen den rastlosen Märtyrer Geyer, den schweigsamen Unmut Johannas, die saumselige Bedienung der kleinen Konditorei, den ganzen, gutgelüfteten, luxuriösen Winterkurort inmitten des verelendeten Erdteils.
Der Anwalt und der Minister führten ein gescheites, dialektisch angeregtes Gespräch über rechtsphilosophische Dinge. Längst war nicht mehr von Martin Krüger die Rede. Vielmehr führten zwei freidenkende Juristen einer beliebigen Zuschauerin ein interessantes Turnier vor. Ein lähmendes Gefühl überkamJohanna vor dieser fatalen Einsicht des milden Greises, der mit der besten Absicht schlimme Richtersprüche in ein Meer wortreichen Verständnisses schwemmte, verkehrte, unmenschliche Urteile in die Watte seiner wohlwollenden Philosophie wickelnd.
Sie hatte sich viel von der Unterredung mit dem Justizminister versprochen, dessen Menschlichkeit weithin gerühmt wurde. Seine Anwesenheit hatte sie sich zum wichtigsten Vorwand genommen, nach Garmisch zu gehen. Jetzt saß sie in dem dürftigen, dumpfen Raum, der einen nach der frischen, starken Luft draußen faul und benommen machte, alles schien aussichtslos trüb, ein alter Mann tunkte Kuchen in Milchkaffee und redete, und ein jüngerer, nervöser, mit tausend anderen Dingen beschäftigter redete auch, und mittlerweile saß der Mann Krüger in der Zelle, die vier Meter lang und zwei Meter breit war, und seine beste Stunde im Tag war die zwischen den sechs eingemauerten Bäumen.
Johannas Rücken wurde rund. Warum saß sie mit diesen Männern? Warum saß sie hier in Garmisch? Alles war sinnlos. Sinn hatte es vielleicht, aufs Land zu gehen, Feldarbeit zu machen, ein Kind zu gebären. Der Minister wurde jetzt poetisch. Seine gleichmäßige, lehrsame Stimme verkündete: »Der Diktator Tamerlan ließ in die Mauer, mit der er sein Reich umgab, lebendige Menschen einmauern. Die Mauer des Rechts ist solche Menschenopfer wert.«
Jetzt aber fing der Anwalt Geyer an, den Minister ernstlich zu bedrängen. Er war in Form jetzt, seine scharfen, zupackenden blauen Augen ließen den Partner nicht los, seine Stimme, nicht laut, damit nicht die Umsitzenden aufmerksam würden, war dringlich und erzwang sich Glauben. Er sprach von den vielen Toten der Münchner Prozesse, von Erschossenen und Eingekerkerten, von manchen als Mörder Gerichteten, die keine Mörder waren, und vielen Mördern, die nicht als Mörder gerichtet wurden. Er ließ aufmarschieren die Zahlreichen, die, um irgendeines Verbrechens willen im Reich verfolgt, in München unbehelligt herumgingen,und die vielen, die um einer läppischen Kleinigkeit willen auf Jahre ins Zuchthaus geschickt oder getötet waren. Er vergaß nicht Nebenumstände. Nicht die Möbel, die der Frau eines um einer albernen Bagatelle willen Verurteilten gepfändet worden waren, weil sie die sehr hohen Gerichtskosten seines umständlichen Prozeßverfahrens nicht zahlen konnte, und die Kosten nicht der Exekution eines um Hochverrat Erschossenen, die man jetzt der Mutter des also Getöteten zum zweitenmal präsentierte, »binnen einer Woche zu zahlen zur Vermeidung der Zwangsvollstreckung«.
Johanna, schlaff vom Gerede des Alten und der Wärme des Raums, konnte der scharfen, hurtigen Aufzählung des Anwalts kaum folgen. Seltsam war, daß sie die Nebendinge stärker aufrüttelten als die großen Tatbestände. Schreckhaft war die Zahl der sinnlos Getöteten, mit gelbem Gesicht und durchlöcherter Brust hastig eingescharrt in einem nächtlichen Wald, ungesühnt, oder in einem Steinbruch in Haufen niedergeschossen wie bei einer Treibjagd, dann in ein Erdloch geworfen, Kalk darüber, ungesühnt. Schreckhaft waren die Toten, an einer Kasernenhofmauer liegend, nachdem man zehn gleichgültigen Flintenläufen als Zielscheibe gedient, schuldlos, doch im Namen des Rechts. Aber ekelhafter noch benahm den Atem die trockene Beamtenhand, die der Mutter die Rechnung vorlegte für die Kugeln, die die Erschießung des Sohnes gekostet hatte.
Der Minister, sosehr er die vorgebrachten Fälle mißbilligte, verstand auch sie. Während eine kleine Musikkapelle, Geige, Zither, Harmonika, ihre Weisen begann, ließ er auch diese Irrtümer und Fehlsprüche einmünden in das Meer allgemeiner Rechtserkenntnis. Autonomie des Richters mußte
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