Erfuellung
Natürlich könnte man auf die Idee kommen, dass ich Gideons Mordmotiv war. Und man könnte annehmen, dass ich ebenfalls von der Tat gewusst hätte. Meine vollkommene Unwissenheit war nicht mein einziger Schutz gewesen, sondern er hatte auch dafür gesorgt, dass ich ein Alibi hatte. Er beschützte mich zu jedem Zeitpunkt – was es auch kosten mochte.
Er rückte etwas ab. »Ich habe dir ein Notfallhandy in die Handtasche gesteckt. Über die eingespeicherte Nummer erreichst du Angus. Wenn du mich brauchst, werde ich es auf diesem Weg erfahren.«
Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Wenn ich meinen Freund sprechen wollte, musste ich dies mit Hilfe seines Chauffeurs tun? »Das gefällt mir nicht.«
»Mir auch nicht. Aber es hat für mich oberste Priorität, den Weg zu dir wieder zu ebnen.«
»Ist es nicht gefährlich für Angus, da mit hineingezogen zu werden?«
»Er war früher beim MI6. Heimliche Telefonate sind für ihn keine große Sache.«
Er hielt inne und sagte dann: »Ich will dir gegenüber vollkommen offen sein, Eva. Ich kann durch das Telefon deinen Aufenthaltsort herausfinden, und das werde ich auch tun.«
»Was?« Ich sprang aus dem Bett und erhob mich. Meine Gedanken schwankten hin und her zwischen dem MI6 – dem Britischen Geheimdienst! – und der Tatsache, dass er mein Handy orten wollte. Ich wusste nicht, worauf ich zuerst reagieren sollte. »Niemals!«
Auch er stand auf. »Wenn ich nicht bei dir sein oder mit dir reden kann, dann muss ich wenigstens wissen, wo du bist.«
»Bitte nicht auf diese Weise, Gideon.«
Sein Gesicht war beherrscht. »Ich hätte es dir nicht sagen müssen.«
»Ist das dein Ernst?« Ich ging zum Schrank, um mir etwas zum Anziehen herauszuholen. »Hast du nicht mal gesagt, dass es keine Entschuldigung für lächerliches Verhalten ist, wenn man jemanden vorher warnt?«
»Sei nachsichtig mit mir.«
Ich warf ihm einen wütenden Blick zu, schob meine Hände in die Ärmel eines roten Morgenmantels aus Seide und verknotete energisch den Gürtel. »Nein, ich halte dich für einen Kontrollfreak, der seinen Spaß daran hat, mich verfolgen zu lassen.«
Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Es gefällt mir eben, wenn du am Leben bleibst.«
Ich erstarrte. Einen Augenblick später versuchte mein Gehirn, die Ereignisse der letzten paar Wochen Revue passieren zu lassen – diesmal vor dem Hintergrund, welche Rolle Nathan während der Zeit gespielt hatte. Ganz plötzlich ergab alles einen Sinn: warum Gideon ausgeflippt war, als ich an diesem einen Morgen allein zur Arbeit gehen wollte, warum Angus mir täglich wie ein Schatten durch die Stadt folgte, Gideons Zorn, als er den Aufzug, in dem ich fuhr, kaperte …
Jedes Mal, wenn ich ihn beinahe gehasst hatte, weil er sich wie ein Arschloch benahm, hatte er mich nur vor Nathan beschützen wollen.
Meine Knie gaben nach, und ich sank wenig elegant zu Boden.
»Eva.«
»Warte eine Minute.« Schon während der Zeit unserer Trennung hatte ich mir einige Dinge zusammengereimt. Mir war klar gewesen, dass Nathan nicht einfach so in Gideons Büro stolzieren konnte, in der Tasche ein paar Fotos von mir, wie ich vergewaltigt und verletzt worden war, um dann unbehelligt wieder zu verschwinden. Brett Kline hatte mich nur geküsst , und Gideon hatte ihn verprügelt. Nathan hatte mich jahrelang vergewaltigt und es auf Fotos und Videos dokumentiert. Gideons Reaktion auf ein Zusammentreffen mit Nathan hatte gar nicht anders ausfallen können als gewalttätig.
Nathan musste das Crossfire Building an jenem Tag aufgesucht haben, als ich Gideon frisch geduscht mit einem roten Fleck auf der Manschette erwischt hatte. Was ich ursprünglich für Lippenstift gehalten hatte, musste Nathans Blut gewesen sein. Das Sofa und die Sofakissen in Gideons Büro waren durch einen Kampf so derangiert gewesen, nicht durch einen mittäglichen Quickie mit Corinne.
Finster sah er mich an und kniete vor mir nieder. »Verdammt. Glaubst du etwa, ich will dich bis ins Kleinste kontrollieren? Das waren außergewöhnliche Umstände. Bitte halte mir zugute, dass ich deine Unabhängigkeit und deine Sicherheit gleichermaßen im Auge behalten wollte.«
Wow. Im Rückblick sah ich die Dinge nicht nur klarer, ich wurde auch wachgerüttelt und auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. »Ich verstehe.«
»Das glaub ich nicht. Das hier« – er deutete ungeduldig auf sich selbst – »ist nur eine verdammte äußere Hülle. Du bist es, die mich antreibt, Eva. Verstehst du
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