Erich Kastner
Reise, der Hauptstadt des Königreichs. Ihr Name lautet Lorbrulgrud, und das bedeutet »Der Stolz der Welt«. Am 26. Oktober 1703 trafen wir dort ein.
EINE PUPPENSTUBE NACH MASS
Lorbrulgrud hat sechshunderttausend Einwohner. Sie wohnen in achtzigtausend Häusern, und Wohnhäuser von drei-bis vierhundert Meter Höhe sind keine Seltenheit. Die Stadt wird von einem Fluß geteilt, der zehnmal so breit ist wie der Nil bei Regenzeit, und die Brücken scheinen kein Ende zu nehmen. Das größte und weitläufigste Gebäude ist der königliche Palast, und seine Höfe, Gärten, Säle, Zimmer und Stallungen erstrecken sich über eine Fläche von dreihundert Quadratkilometern. Das ist eine grobe Schätzung, nichts weiter. Meinen Versuch, die Mauern abzuschreiten, gab ich nach drei Marschtagen auf, weil ich merkte, daß ich mich verzählt hatte. Ich weinte vor Verdruß und Erschöpfung. Und wenn mich Glumda nicht wie eine Stecknadel gesucht und gefunden hätte, wäre mir die Palastvermessung übel bekommen. Sie zankte mich aus, und ich versprach, nichts mehr ohne ihr Wissen zu tun. Ich war überhaupt recht erschöpft und magerte zusehends ab. Mehr als sechs Vorstellungen am Tag hielt ich nicht aus. Das ärgerte den Bauern und den Geizhals außerordentlich; denn gerade in der Hauptstadt war der Zulauf besonders groß. Einmal brach ich, schon während der fünften Vorstellung, ohnmächtig zusammen und hätte mich beinahe mit dem eignen Degen aufgespießt! Glumda beschwor ihren Vater, die Tournee abzubrechen. Doch er und der Kompagnon dachten nur ans Geldverdienen und sagten, sie solle den Mund halten. Da kam der Zufall zuhilfe. Eine Hofdame hatte der Königin von mir erzählt, die daraufhin den Wunsch äußerte, den Zwerg der Zwerge persönlich kennenzulernen. Ich gab in ihrem Salon eine Galavorstellung, und sie war so begeistert, daß sie mich dem Bauern für tausend Goldstücke abkaufte. Er strahlte, und Glumda schluchzte. Ich bat die Königin, das Kind nicht von mir zu trennen. Sie zeigte sich gnädig und streckte mir die Hand zum Kuß hin. Ich umfaßte ihren kleinen Finger mit beiden Armen und drückte meine Lippen dankbar auf den majestätischen Fingernagel.
So blieb Glumda bei Hofe und sorgte für mich wie bisher: Der Hoftischler baute mir nach ihren genauen Angaben ein behagliches Schlafzimmer. Die Zimmerdecke war abnehmbar, damit das Kind morgens mein Deckbett herausholen und lüften oder frisch überziehen konnte. Die Möbel wurden am Fußboden festgeschraubt, wie man es in den Schiffskabinen macht. Die Tür hatte Schloß und Riegel, damit ich mich vor den Ratten nicht zu fürchten brauchte. Und Glumdas wegen war das Kästchen mit einem Tragbügel versehen. So konnte sie mich, wohin sie auch ging, jederzeit bequem mitnehmen.
Mittags trug sie mich im Kästchen in die Gemächer der Königin, mit der ich zu speisen pflegte. Ich aß an einem kleinen Tisch, mitten auf der königlichen Tafel. Besonders interessant ging es mittwochs zu. Denn da nahm der König an der Tafel teil. Zuweilen brachte er Gelehrte mit, und er und die Professoren bestürmten mich mit tausend Fragen. Zunächst hielten sie mich für eine einmalige Rarität oder, wie einer der Gäste sich auszudrücken beliebte, für einen »Scherz der Natur«.
Sie wollten nicht glauben, daß es Wesen wie mich millionenfach gäbe und daß auch wir in Staaten und Städten lebten, in Krieg und Frieden, mit Königen, Ärzten, Theologen, Richtern, Generälen und Steuereinnehmern. Sie meinten, wir seien für Recht und Ordnung und Wissenschaft viel zu klein. Ich behauptete, daß derartige Leistungen nicht von der Körpergröße abhingen und der Verstand nicht von der Hutnummer. Mein wichtigstes Argument war der Hinweis auf Liliput und Blefuscu, wo man ja noch viel, viel kleiner sei als in Europa und trotzdem Paläste baue, Gesetze erlasse und sich die Haare kämme. Liliputaner, Menschen und Riesen, sagte ich, seien die gleichen Geschöpfe.
Ich könne es beschwören. Sie seien nur verschieden lang und breit. Dieser Unterschied verleite zu Fehlschlüssen und Vorurteilen, die man sich aus dem Kopfe schlagen müsse. Selbst bei mir daheim seien die längsten Leute noch lange nicht die gescheitesten. Leider nahm auch der Hofzwerg an den Mahlzeiten teil. Ich habe den Kerl schon im Vorwort erwähnt. Erinnert ihr euch? Wie er sich in einem Apfelbaum versteckt hatte und ich von einem der riesigen Äpfel beinahe erschlagen worden wäre? Ganz recht, von ihm ist die Rede, von diesem
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