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Erich Kastner

Erich Kastner

Titel: Erich Kastner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gullivers Reisen
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aufschlug, sah ich, daß ich in einem Urwald lag, doch der Wald war gelb. Die Stämme waren kerzengerade und ragten, zehn Meter hoch und mehr, in den Himmel, gelb und dick wie gigantischer Bambus. Am seltsamsten wirkten die Wipfel. Sie erinnerten an Kornähren, an Roggen und Weizen, nur ins Riesenhafte vergrößert. Und je länger ich in die blonden Wipfel starrte, um so klarer wurde es mir: Ich lag in einem gewaltigen, unabsehbaren Kornfeld, gelb und reif zur Ernte für Riesen wie den Kerl, der das Boot hatte fangen wollen! Plötzlich zuckte, obwohl die Sonne schien, ein breiter Blitz durch die Luft, fuhr sausend in den gelben Getreidewald, und schon fiel ein Waldstück, nicht weit von mir, prasselnd und krachend zu Boden! Hunderte der Kornbäume hatte der Blitz mit einem Schlag bis zu den Wurzeln gefällt! Noch während ich vor Angst aufschrie, fuhr ein zweiter Blitz durch die Luft! Wieder knickten Hunderte von Stämmen um, als sei ein gewaltiges Rasiermesser zur Erde gefahren! Und hoch über der Lichtung, die entstanden war, turmhoch darüber, erblickte ich jetzt das schwitzende Mondgesicht eines Riesen, der noch größer und unheimlicher wirkte als vorhin das Monstrum am Meer!
    Der Kerl wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Mit der anderen Pranke stützte er sich auf einen Mastbaum und schnaufte, daß die Luft zitterte. Dann spuckte er in die Hände, hob den Mastbaum hoch über den Kopf, und jetzt sah ich, daß es eine Sense war! Der Riese war ein Bauer oder ein Knecht und mähte das Kornfeld, das für mich ein gelber Urwald war! Ich warf mich zu Boden und preßte den Kopf in die Furche. Wieder hörte ich, wie ein Geviert des Kornwaldes umstürzte. Jetzt mußte ich handeln. Flucht war sinnlos. Wenn ich liegenblieb, konnte ich zertreten oder von den Halmen erschlagen werden. Deshalb lief ich dem Riesen entgegen, kletterte, nicht weit von ihm, an einem der Halme hoch, hielt mich fünf Meter über der Erde am Stamme fest und hatte wieder einmal, wie so oft in meinem Leben, mehr Glück als Verstand. Mit dem nächsten Schritt, den der Riesenkerl machte, blieb er dicht vor mir stehen. Ich hatte sein Knie vor der Nase und zerrte aus Leibeskräften an seiner Hose. Dazu schrie ich wie am Spieß. Er schien zu stutzen, mochte denken, ihn zwicke ein Käfer, bückte sich, sah mich und hob mich hoch. Er hielt mich vorsichtig zwischen zwei Fingern und sperrte vor Staunen das Maul auf. Es war groß wie ein Scheunentor, und die Zähne glichen zwei Reihen von Grabsteinen auf einem Friedhof. Ich faltete die Hände wie ein frommes Kind und schrie, so laut ich konnte: »Bitte, bitte, tu mir nichts!«
    Endlich machte er sein Scheunentor wieder zu, warf die Sense hin, ballte die Hand, mit der er mich hielt, zur Faust und rannte mit mir davon. Ich bekam in der Faust kaum Luft. Außerdem wurde mir von seinen Sprüngen übel und schwindlig. Und das einzige, was ich denken konnte, war: ›Nun bist du selber der Liliputaner, mein lieber Gulliver! Und wenn der Sensenmann so böse sein sollte, wie er groß ist, dann gute Nacht!‹
GROSSE LEUTE, GROSSER LÄRM
    Als der Riesenlümmel schließlich stillhielt und die Faust öffnete, war ich halb bewußtlos. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand, und merkte nur, daß er sich über mich beugte und vorsichtig anhauchte, wie es bei uns daheim die Kinder mit schlafenden Marienkäferchen machen. Ein besonders böses Ungeheuer konnte er also kaum sein. Trotzdem hätte mich sein Atem beinah in die Luft gewirbelt.
    Was mich jedoch viel, viel mehr störte, war der ständig wachsende Lärm! Meinen Ohren war zumute, als träfen zehn schwere Gewitter aufeinander! Es dröhnte, brüllte, quiekte, juchzte, meckerte und lachte so wild durcheinander, daß mir, dem abgehärteten Schiffsarzt und Seefahrer, die Tränen kamen. Ich blickte hoch und sah mehr als ein Halbdutzend Riesengesichter, groß wie Turmuhren, die mich verwundert und vergnügt anstarrten.
    Wollt ihr wissen, wo ich war? Ich lag auf einem Tisch, aber auf was für einem! Er war vierzig Meter lang, fünfzehn Meter breit und acht Meter hoch und stand in einer Bauernstube, die kein Ende zu nehmen schien. Der Riese, der mich im Kornfeld aufgelesen hatte, war ein Knecht. Er war mit mir, so rasch er konnte, ins Haus gelaufen, und die Gesichter, groß wie Turmuhren, die mich nun angafften, gehörten dem Bauern, seiner Familie und dem Gesinde. Die Leute sahen zum Fürchten aus. Die Bärte standen wie dorniges Gestrüpp um den Mund. Die Poren in der Haut

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