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Erich Kastner

Erich Kastner

Titel: Erich Kastner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gullivers Reisen
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glichen Erdlöchern. Als mich das Baby auf dem Arm der Bäuerin mit einer der riesigen Patschhände packte und in den zahnlosen Mund stecken wollte, kam mir im letzten Augenblick die Frau zuhilfe. Sie nahm mich dem Kinde weg und sagte: »Pfui! Spinnen ißt man nicht!« Hielten mich die Riesen tatsächlich für eine Spinne? Merkten sie nicht, daß ich ein gebildetes und denkendes Wesen war?
    Ich versuchte nun, ihnen zu zeigen, daß ich alles andere als eine Spinne oder dergleichen sei. Ich zog den Hut, verbeugte mich tief, schwenkte den Degen, machte wie bei Hofe einige wohlgezirkelte Schritte und überreichte dem Bauern meine Geldbörse. Weil er mit dem winzigen Ding nichts anzufangen wußte, holte ich meine Barschaft heraus und legte ihm die Münzen auf die Hand. Er schien gar nicht zu merken, daß es sich um Geld handelte, obwohl sogar zwei goldne Dukaten dabei waren, sondern schnippte alles miteinander achtlos beiseite, und ich mußte tüchtig hinter den rollenden Münzen auf dem Tisch hin und her rennen, bis ich sie wieder beisammen hatte.

    Das machte der Runde ein Riesenvergnügen, und sie wollten sich kranklachen, sogar das Baby.
Später setzten sich alle an den Tisch und aßen zu Mittag. Die Schüssel mit dem Fleisch maß gut und gern fünf Meter im Durchmesser. Und schon jetzt zeigte sich die Zuneigung der neunjährigen Tochter. Sie legte kleine Fleischbrocken neben mich und schaute entzückt zu, wie ich mein Eßbesteck aus der Rocktasche holte und mit Messer und Gabel hantierte. Beim Trinken half sie mir, indem sie mich an den Rand ihres Glases hielt und das Glas vorsichtig neigte. So konnte ich trinken, ohne zu ertrinken. Die Kleine war zehn Meter groß und behandelte mich von Anfang an, als sei ich ihr Riesenspielzeug und sie meine Puppenmutter. Mit Vornamen hieß sie Glumdalclitch, aber weil mir das zu umständlich war, nannte ich sie schon nach ein paar Tagen Glumda. Sie rief mich »Grildrig«. Das heißt »Männchen«. Wenn man bedenkt, daß mich die Leute in Liliput »Menschenberg« genannt hatten, merkt man so recht, wie rasch und gründlich sich die Zeiten ändern können.
Als mich Glumdas Bruder, ein Jahr älter als sie, an den Beinen packte und durch die Luft schwenkte, gab ihm der Vater eine Ohrfeige, die bei uns in England eine ganze Reiterschwadron vom Sattel gefegt hätte. Der Junge steckte sie ein, ohne mit der Wimper zu zucken. Immerhin bewahrte ich ihn vor dem zweiten Schlag. Ich fiel vor dem Bauern auf die Knie und bat um Gnade. Auch das trug mir bei der Familie von Anfang an beträchtliche Sympathien ein.
Sogar die Haustiere im Zimmer schienen mich gut leiden zu können. Wahrscheinlich war ich ihnen viel zu klein, als daß sie mich hätten beißen oder kratzen mögen. Die Katze, die auf den Tisch gesprungen war, blickte mich zunächst mißtrauisch an. Dann aber wedelte sie mit dem Schwanz und begann zu schnurren. Sie mochte so viel wiegen wie drei Ochsen aus Yorkshire, und das Schnurren klang, als surrten in einer Strumpffabrik zwanzig Webstühle. Die Dogge war so groß wie zwei Elefanten übereinander, und der Windhund war noch um einen halben Elefanten größer. Doch auch die beiden Hunde wedelten mit den Schweifen. Sie mochten denken: »Das Kerlchen ist so winzig, daß er uns nicht viel wegfressen wird!« Nach dem Mittagessen trug mich Glumda ins Kinderzimmer und legte mich auf ihr Bett. Dann ging sie mit den anderen aufs Feld, und ich schlief auf der Stelle ein. Nicht einmal den Degen hatte ich, vor lauter Müdigkeit, abgeschnallt, und das war mein Glück. Denn als ich aufwachte, weil mich etwas Kaltes, Feuchtes beschnupperte, sah ich, daß es zwei entsetzlich große Ratten waren! Da sprang ich hoch, zog den Degen und wehrte mich meiner Haut wie ein Stierkämpfer. Als ich der einen Ratte den Bauch aufgeschlitzt hatte, sprang die andere vom Bett und verschwand. Auf dem Bett sah es aus wie in einem Schlachthaus. Ich fand keinen Schlaf mehr und ging im Bett auf und ab, bis Glumda zurückkam. Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen, legte mich in ihre Puppenwiege und verstaute sie auf dem Kleiderschrank. Nun war ich in Sicherheit und schlief bis zum nächsten Morgen. Ich sagte schon, daß mich Glumda vom ersten Augenblick an behandelte, als sei ich ein lebendiges Püppchen. Dabei blieb es. Sie wusch mich. Sie nähte mir Hemden und Röcke und machte das sehr geschickt. Leider waren die Stoffe viel schwerer als unsere Wolle und Leinwand, so daß ich mich, wenn ich auch nur zehn

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