Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)
konnte, ihm nahe zu sein. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, als hätte sie einen Schrei des Entsetzens ausgestoßen.
Es ist ein anderer Mann, den ich sehe, dachte sie. Oder ich bin eine andere Frau geworden, ohne es zu wissen.
Ein paar Stunden später, als sie Herrn Ebers Abrechnungen durchging, um die Behauptung von sinkenden Einkünften zu prüfen, meldete Julietta, Pater Leopoldo sei gekommen. Sofort packte Ana die Angst, Isabel sei wieder etwas zugestoßen. Sie lief die Treppen hinunter, um ihn zu empfangen. Aber Pater Leopoldo konnte sie beruhigen. Der alte Arzt habe mit guten Stichen genäht, und die Baumwolle, welche die Haut bedeckte, verhindere, dass Schmutz eindrang.
»Ich bin nur gekommen, um zu sagen, dass ich mit meinen Versuchen fortfahre, mit ihr zu sprechen«, sagte Pater Leopoldo, als sie sich auf der Veranda in den Schatten gesetzt hatten und Julietta Tee serviert hatte.
»Aber sie ist immer noch stumm?«
»Sie sagt nichts. Aber sie hört zu.«
»Kann man dessen sicher sein?«
»Ich sehe, dass sie zuhört.«
»Ich weiß, dass das nicht meine Sache ist. Aber worüber versuchen Sie, mit ihr zu sprechen?«
»Dass sie ihre schwere Sünde erkennt und ihre Seele Gott übergibt. Er wird über sie urteilen, aber sein Urteil wird milde sein, wenn sie bekennt und sich seinem Willen unterwirft.«
Ana sah Pater Leopoldo verwundert an. Er glaubt wirklich an das, was er sagt, dachte sie. Gott ist für ihn strafend. Derselbe Gott, über den meine Großmutter in Funäsdalen gesprochen hat. Er glaubt an dieselbe Hölle, wie sie es tat. Er ist nicht wie ich. Ich glaube nicht an eine Hölle, aber ich habe trotzdem Angst vor ihr. Gibt es eine Hölle, dann gibt es sie hier auf Erden.
Gott ist weiß, dachte Ana. Das habe ich mir wohl immer schon vorgestellt. Aber nie so deutlich wie jetzt.
Sie wollte das Gespräch beenden. »Sie besuchen mich zum ersten Mal«, sagte sie. »Ich glaube nicht, dass Sie nur gekommen sind, um zu berichten, dass Isabel noch immer schweigt. Das weiß ich, da ich sie ja jeden Tag besuche.«
»Ich komme auch, um zu berichten, dass der Verputz und der Mörtel an einer Ecke der Kathedrale abbröckeln und ausgebessert werden müssen.«
»Ich bin kein Maurer.«
»Wir brauchen freiwillige Beiträge, um die Schäden möglichst schnell zu beseitigen, ehe sie schlimmer werden. Wir können nicht abwarten, bis die Oberhoheit unserer Kirche in Lissabon den Entschluss fasst, uns zu helfen.«
Ana nickte. Sie versprach einen Beitrag, obwohl es sie kränkte, dass dies der eigentliche Grund von Pater Leopoldos Besuch gewesen war. Sie sah ihn nicht mehr als Priester, sondern als einen Bettler, der sich ihr aufdrängte.
Er stand auf, als hätte er es auf einmal eilig zu gehen. Ana klingelte mit ihrer Glocke und bat Julietta, ihn hinauszubegleiten. Sie dachte an die Worte ihres Vaters, der gesagt hatte, man sollte die Priester mit nackten Füßen in den Schnee hinausstoßen. Er hätte Pater Leopoldo nicht gemocht, dachte sie. Aber ich wäre weiterhin für ihn ein schmutziger kleiner Engel gewesen.
Ana besuchte das Bordell an diesem Tag nicht. Sie schickte Julietta mit der Nachricht zu O’Neill, er müsse heute die Verantwortung übernehmen. Aber am Ende des kurzen Briefes deutete sie an, dass sie vielleicht doch einen unerwarteten Besuch machen würde. Es war Senhor Vaz, der sie gelehrt hatte, alle im Bordell in ständiger Ungewissheit zu lassen. Kontrollen könnten jederzeit bei Tag und Nacht erfolgen.
Nach dem Treffen mit Pater Leopoldo entließ Ana einen der verschlafenen Nachtwächter. Er flehte vergebens darum, seine Arbeit zu behalten. Er sei krank gewesen, er habe Fieber gehabt, seiner Mutter sei ein Unglück zugestoßen, mehrere seiner Kinder befänden sich in Schwierigkeiten; deshalb sei er eingeschlafen.
Ana wusste, dass nichts von dem, was er sagte, wahr war, es war ein rituelles Spiel, das von Beginn an entschieden war. Aber Ana ließ ihn seinen Bruder holen, der nun die Arbeit als Nachtwächter übernehmen durfte. Sie würde jede Nacht kontrollieren, ob er wach blieb, sagte sie abschließend.
Nach der Mittagsruhe fuhr sie hinunter zur Festung. Carlos hockte auf dem Schornstein, als sie das Steinhaus verließ. Irgendwie war er dabei, sich zu verändern, das war eindeutig, wenn sie es auch noch nicht benennen konnte. Vielleicht sehe ich mich selbst in Carlos, dachte sie. Irgendetwas ist im Begriff zu geschehen, etwas wird mein Leben entscheidend beeinflussen. Und damit auch
Weitere Kostenlose Bücher