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Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)

Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)

Titel: Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Carlos’ Zukunft.

67
     
    Moses wartete im Schatten neben der Mauer, die die Festung umgab. Ana stieg aus dem Auto und ging zu ihm. Moses hatte einen Platz gewählt, an dem sie nicht gesehen werden konnten. Er überreichte ihr einen kleinen Lederbeutel.
    »Was ist das?«
    »Zerstoßene Schalen einer besonderen Schnecke, die nahe bei der Küste von Inhambane lebt. Außerdem getrocknete Blüten eines Baums, der nur jedes neunzehnte Jahr an einem einzigen Tag blüht.«
    »Solche Bäume gibt es doch nicht.«
    Er sah für einen Augenblick traurig aus. Es tat ihr sofort leid.
    »Was soll ich damit machen?«
    »Gib es Isabel. Sag, dass es von mir ist. Sie soll es essen.«
    »Warum soll sie Schalen und Blüten essen?«
    »Es wird ihr Flügel verleihen, wie die eines Schmetterlings. Damit kann sie aus dem Gefängnis wegfliegen. Ich erwarte sie und nehme sie und ihre Kinder mit in die Minenschächte. In ihrer Zelle wird nur der Lederbeutel zurückbleiben. Er wird sacht mit einem Flüstern vermodern.«
    »Flüstert der Lederbeutel?«
    »Er wird dem, der es hören will, von Isabel und ihrem neuen Leben erzählen.«
    »Das klingt wie ein Märchen, das man kleinen Kindern erzählt!«
    »Aber es ist wahr, was ich sage.«
    Ana sah, dass Moses es wirklich ernst meinte. Es war kein Kind, das vor ihr stand und träumte. Was er sagte, war für ihn eine Wahrheit, sonst nichts. Er war Isabel sehr ähnlich, die gleiche hohe Stirn, die ausdrucksvollen Augen.
    »Ich werde es ihr geben«, sagte Ana und schob den Lederbeutel in den Korb unter das Essen. »Aber weiß sie, wie sie es einnehmen soll?«
    »Sie weiß es.«
    »Und ihr werden Flügel wachsen?«
    Moses trat einen Schritt zurück, als wollte er ihr nicht mehr zu nahe sein. Dann drehte er sich um, ohne zu antworten, und ging davon. Ana blieb stehen, zögernd. Sie stellte den Korb ab, holte den Lederbeutel hervor und öffnete ihn. Er war zur Hälfte mit einem bläulichen Pulver gefüllt, das glänzte, als ein Sonnenstrahl darauf fiel.
    Ich wirke in einem seltsamen Spiel mit, dachte sie. Wie sollen einem Menschen Flügel wachsen? Hätte mein Vater mir diese gemahlenen Schnecken und Blüten gegeben, hätte er mich dann über den Fluss fliegen und zum Fjäll hinüber verschwinden sehen?
    Sie knotete den Beutel zu. Es gibt vieles, was ich nicht verstehe, dachte sie. Die Flügel sind eine Wahrheit für Moses und Isabel. Für mich sind sie zugleich lächerlich und tiefernst.
    Sie trat durch die Tore der Festung ein. Sullivan stand wie üblich da und erwartete sie. Gerade an diesem Tag trug er eine weiße Paradeuniform. Er hielt die erloschene Pfeife in der Hand. Sie fragte, ob er habe klären können, wer den Überfall auf Isabel begangen habe.
    »Nein«, antwortete er. »Aber es scheint mir unwahrscheinlich, dass wir es nicht herausbekommen sollten.«
    »Einer von den Soldaten?«
    »Wer sollte dieses Risiko eingehen? Ich würde den Schuldigen in eine Strafkompanie nach Portugal schicken. Und jeder gemeine Soldat fürchtet diese Strafe.«
    »Wer kann sich an den Wächtern vorbeischleichen?«
    »Genau das untersuchen wir zur Zeit. Die Stadt ist klein. Die Wahrheit darüber, was geschehen ist, wird sich kaum verstecken können.«
    Ich werde niemals eine Antwort bekommen, dachte sie. Es kann jeder gewesen sein, auch der Mann, mit dem ich gerade rede.
    Sie verließ den Kommandanten und stieg hinunter zu den Zellen. Sie setzte sich neben Isabel. Der Korb vom Vortag war nicht ganz leer, sie hatte gegessen, auch wenn es nur wenig war.
    »Ich bringe dir diesen Beutel von Moses«, sagte Ana. »Er möchte, dass du den Inhalt einnimmst, damit du frei werden kannst.«
    Zum ersten Mal ergriff Isabel Anas Hand. Sie presste den Lederbeutel an sich und lehnte für einen kurzen Moment ihren Kopf an Anas Schulter. »Geh jetzt«, sagte sie mit einer Stimme, die nach all dem Schweigen heiser geworden war. »Ich habe nicht mehr viel Zeit.«
    Als Ana aus der Dunkelheit in das scharfe Sonnenlicht hinaustrat, waren ein paar schwarze Männer dabei, eine Reiterstatue zu polieren. Sie war mit einem Schiff aus Lissabon gekommen und sollte auf einem der Plätze der Stadt aufgestellt werden. Die Ziegen standen regungslos in einer schattigen Ecke des von Mauern umgebenen Hofs.
    Ana fuhr nach Hause. Sie hatte gehofft, Moses würde außerhalb der Festung auf sie warten. Aber er war nicht da.
    Am nächsten Tag, als sie in der Morgendämmerung davon erwachte, dass Carlos ihr die Decke wegriss, stand Moses auf der Straße und

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