Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)

Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)

Titel: Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
stehlen werde. Ich gebe Ihnen bis morgen Zeit für Ihre Entscheidung.«
    Er stand auf, verbeugte sich und hielt ihr die Tür auf. Als er an ihr vorbeiging, strich er rasch mit der behandschuhten Hand über ihre Wange. Sie schauderte.
    Anas Besuch bei Isabel war an diesem Tag sehr kurz. Spätabends, als Carlos schon schlief, fasste sie ihren Entschluss. Einmal im Leben würde sie sich verkaufen.
    Wenn es vorüber war, würde sie endlich aufbrechen können und die irdische Hölle verlassen, über die ihre Großmutter sie nie aufgeklärt hatte. Sie würde aus dieser Stadt verschwinden, wo sie an Land gegangen war, ohne zu wissen, worauf sie sich einließ.

68
     
    Um schlafen zu können, nahm sie eine kräftige Dosis des chloralhaltigen Schlafmittels, das Senhor Vaz hinterlassen hatte. Sie schlief unruhig, aber sie schlief.
    Als sie erwachte, sah sie direkt in O’Neills unrasiertes und glänzendes Gesicht. Seine Augen waren aufgerissen und blutunterlaufen.
    Es war bei Anbruch der Morgendämmerung. Das Licht stahl sich zwischen den halbgeöffneten Vorhängen herein. O’Neill hatte ein Messer in der Hand, und das war blutig. Sie glaubte zuerst, sie selbst sei das Opfer, aber sie fühlte keinen Schmerz. Verwirrende und erschreckende Gedanken flogen ihr durch den Kopf. Wo war Carlos? Warum hatte er sie nicht beschützt? Dann sah sie ihn neben dem Bett auf dem Boden liegen, das Gesicht blutig. Ob Carlos tot oder schwer verletzt war, konnte sie nicht erkennen. Vielleicht erinnerte sie sich auch vage, dass sie Carlos im Schlaf hatte schreien hören und dass es dieser Laut war, der sie aus der Tiefe des Schlafs geholt hatte?
    Als sie begriff, dass sie selbst nicht verletzt war, entdeckte sie, dass O’Neill Angst hatte. Gegen wen hatte er seine Waffe gerichtet? Gegen die schlafenden Wächter? Gegen Julietta? Sie zwang sich, möglichst ruhig zu bleiben, und richtete sich langsam auf. O’Neill schob die Vorhänge zur Seite, so dass die letzten Schatten verschwanden. Er schien es eilig zu haben. Das vermehrte ihre Unruhe, konnte es doch nur bedeuten, dass er etwas getan hatte, wovor er fliehen musste, so schnell er nur konnte.
    »Was willst du?«, fragte sie.
    »Ich bin gekommen, um Geld zu holen«, antwortete er.
    Er zitterte.
    »Was hast du getan?«
    Hatte er einen Übergriff an einer der Frauen im Bordell begangen? Oder vielleicht an mehreren, vielleicht an allen? War es Felicias Blut und das der anderen Frauen, das an der Messerschneide klebte?
    »Ich muss es wissen«, sagte sie. »Was ist geschehen? Wen hast du mit dem Messer attackiert?«
    O’Neill antwortete nicht. Es kam nur ein ungeduldiges Knurren aus seiner Kehle. Er zog ihr mit einem Ruck die Decke weg und zischte sie an, ihm alles Geld zu geben, was sie im Haus verwahrte. Sie stand auf, schlüpfte in den Morgenmantel und dachte, wie sonderbar es war, dass sich der größte Teil ihres Geldes seit dem Vortag im Büro des Kommandanten befand, bewacht von der portugiesischen Garnison der Stadt.
    »Was ist geschehen?«, fragte sie erneut.
    O’Neill stand immer noch mit dem Messer in Bereitschaft, als fürchtete er, sie würde sich auf ihn stürzen. Carlos lag bewusstlos da, aber Ana konnte an seinem Brustkorb, der sich hob und senkte, erkennen, dass er lebte. Was O’Neill auch getan hatte, sie würde ihm nie verzeihen, dass er auf einen unschuldigen Affen losgegangen war und ihn fast getötet hatte.
    O’Neill beantwortete plötzlich ihre Frage. Es war, als schleuderte er die Worte heraus. »Ich bin in ihre Zelle gegangen und habe das vollbracht, was mir vorher misslungen ist. Diesmal ist sie wirklich tot.«
    Ana fröstelte und stöhnte auf.
    O’Neill trat einen Schritt weiter auf sie zu. »Ich konnte nicht mit ansehen, dass die Einkünfte der Frauen an eine schwarze Frau vergeudet werden sollten, die ihren Mann ermordet hat. Jetzt bin ich auf der Flucht. Und ich werde dein Geld mitnehmen. Nicht einmal den Sarg für ihr Begräbnis wirst du bezahlen können.«
    Ana setzte sich vorsichtig auf den Bettrand. Es war, als hätte O’Neills Messer etwas in ihr zerfetzt. In diesem Augenblick hatte sie nur ein Bedürfnis, und das war, Isabels Tod zu betrauern. Aber O’Neill stand ihr im Weg. Er würde nicht gehen, ehe er Geld bekommen hätte, und er würde ihr auch nicht glauben, wenn sie erzählte, dass der größte Teil ihrer Mittel sich im Büro des Kommandanten befand. Vielleicht war dies das Ende der merkwürdigen Reise, die mit einer Schlittenfahrt begonnen hatte? Sie

Weitere Kostenlose Bücher