Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)
Straße gesehen, der auf mein Haus schaut?«
»Nein«, sagte Julietta.
»Ich habe aber gerade einen Mann draußen stehen sehen.«
»Ich weiß nicht, wer das war. Aber ich kann fragen.«
Als sich Ana nachmittags zur Festung fahren ließ, hatte Julietta noch nicht herausgefunden, wer der Mann auf der Straße gewesen war. Niemand schien ihn gesehen zu haben. Ana begann sich zu fragen, ob sie sich getäuscht hatte.
Gulliver Sullivan stand da und erwartete sie. »Die Gefangene ist heute Nacht verletzt worden«, sagte er, als ob es ihn eigentlich nicht berührte.
Ana verstand zuerst nicht, was er meinte.
»Die Frau, die Sie besuchen, wurde heute Nacht verletzt.«
»Was ist geschehen?«
»Jemand hat versucht, sie ums Leben zu bringen. Aber es ist misslungen. Es ist auch denkbar, dass es jemand war, der ihr nur schaden, ihr Gesicht zerstören wollte.«
»Wie konnte das geschehen?«
»Wir sind dabei, die Sache zu untersuchen.«
Ana wartete nicht auf das, was Sullivan noch zu sagen hatte. Sie eilte über den offenen Platz, wo ein paar Ziegen grasten. Die Soldaten hatte das Gitter schon aufgeschlossen, als sie sie kommen sahen. Ana lief durch die dunklen Korridore. Die Tür von Isabels Zelle stand offen. Sie saß nicht wie sonst auf der Pritsche, sondern lag darauf. Ana setzte sich auf den Steinboden neben sie. Blut war von einer Wange und aus dem Mundwinkel geflossen. Ana konnte sehen, dass sie geschnitten worden war.
Sullivan war ihr in die Zelle gefolgt. »Sie sollten vielleicht Ihren indischen Arzt holen«, sagte er.
Ana hatte plötzlich das Gefühl, Sullivan wisse genau, dass Pandre kein Arzt war. Aber in diesem Moment war es ihr egal, sollte er doch glauben oder wissen, was er wollte.
»Er ist abgereist«, sagte sie nur. »Warum holt die Festung keinen Arzt?«
»Er ist unterwegs«, sagte Sullivan. »Aber er muss sich zuerst um eine Entbindung kümmern. Das Leben kommt immer vor dem Tod.«
»Nicht immer«, sagte Ana. »Ich denke, Leben und Tod kommen und gehen gleichzeitig. Isabel kann sterben, wenn sie nicht behandelt wird.«
Der Arzt, der schließlich eintraf, war ein stocktauber Portugiese, der über fünfzig Jahre in diesem Land verbracht hatte. Er überraschte Ana, indem er mit geschickten Fingern die große Wunde nähte und mit Watte bedeckte.
»Wird sie überleben?«, fragte Ana.
»Natürlich wird sie überleben«, sagte der Arzt. »Sie wird eine Narbe behalten. Aber nichts weiter.«
»Wollte derjenige, der sie mit dem Messer angegriffen hat, sie töten oder nur verwunden?«
Damit er sie hörte, musste sie ihm ihre Frage ins Ohr schreien.
»Beides ist möglich«, antwortete er. »Aber das Wahrscheinliche ist, dass er sie nicht töten wollte. Sonst hätte er weiter unten geschnitten, am Hals, und tiefer. Ein scharfes Messer, das eine Kehle öffnet, tötet binnen weniger als einer Minute.«
Ana blieb bei Isabel sitzen. Ob sie Schmerzen hatte, konnte sie nicht erkennen. Schweigend horchte sie auf ihre Atemzüge. Ana betrachtete abwesend ein Insekt, das langsam über eine Wand der Zelle kroch.
Schließlich stand sie auf und verließ die Zelle. Sullivan saß auf einem Schaukelstuhl neben der Steinmauer und rauchte Pfeife.
»Wie konnte jemand zu ihr gelangen?«, fragte Ana.
»Ich bin ganz ehrlich, wenn ich sage, dass ich das nicht weiß. Aber ich kann auch versprechen, dass wir den Vorfall untersuchen werden. Ich will nicht, dass eine Gefangene stirbt, für die ich die Verantwortung trage.«
»Ist das wahr?«
»Ja«, sagte Sullivan. »Sie ist mir gleichgültig. Ich bin der Ansicht, sie sollte gehenkt oder erschossen werden. Aber niemand soll sich in eine meiner Zellen schleichen und sie töten können.«
Abends, als Ana zum Steinhaus zurückgekehrt war, bemerkte sie wieder den schwarzen Mann im Overall draußen auf der Straße.
Etwas später löschte sie das Licht und schaute vorsichtig durch einen Spalt zwischen den Vorhängen.
Der Mann stand noch da.
Er wartet auf mich, dachte sie. Er will etwas von mir.
Sie ging mit einer Laterne in der Hand die Treppe hinunter, öffnete die Haustür und passierte die Wachen. Etwas wie Hass auf diese Männer, die schliefen, statt sie zu bewachen, machte ihr plötzlich Lust, sie in die Feuer zu stoßen. Aber stattdessen öffnete sie das Gittertor zur Straße. Der Mann stand noch da. Sie überquerte die Straße und ging zu ihm hin.
»Ich bin Moses«, sagte er. »Der Bruder von Isabel. Ich bin aus den Minen gekommen, um sie zu befreien und
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