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Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)

Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition)

Titel: Erinnerung an einen schmutzigen Engel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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wo sie Wasser für das Waschhaus neben dem Stall holten. Hanna verstand nicht, wie Berta die schwere Arbeit bewältigte, die selten weniger als zwölf Stunden am Tag währte. Berta hatte bei Forsman angefangen, als sie dreizehn war. Ihr Vater war bei einem Unfall im Sägewerk von Essvik umgekommen und ihre Mutter im Jahr darauf an Schwindsucht gestorben, worauf die Geschwisterschar in alle Winde zerstreut wurde. Berta kam immer wieder darauf zurück, welches Glück sie gehabt habe, bei Forsman arbeiten zu können. Auch wenn es schwer und trostlos war, hatte sie ein Dach überm Kopf, ein Bett zum Schlafen und dreimal am Tag eine Mahlzeit. Worüber sollte sie sich beklagen? Wer gab ihr das Recht dazu?
    »Wenn ich hier weggehe, stehen sofort zehn Mädchen draußen vor der Tür und wollen meine Arbeit haben«, sagte Berta an einem frühen Morgen, als sie an der Pumpe standen und ihre Eimer füllten. »Warum sollte ich nicht zufrieden sein?«
    »Wirst du in zehn Jahren noch hier sein?«, fragte Hanna.
    Berta schüttelte den Kopf und lachte auf. Obwohl sie noch jung war, hatte sie schon mehrere Zähne im Oberkiefer verloren. »Zehn Jahre? Ich weiß nicht einmal, ob ich dann noch lebe.«
    Aber Hanna ließ nicht locker. Von irgendetwas musste Berta doch träumen?
    »Kinder«, sagte Berta zögernd. »Die möchte ich gern haben. Aber dazu muss ich einen Mann finden. Und das habe ich noch nicht. Ich will einen haben, der weder trinkt noch schlägt. Wo findet man so einen Mann?«
    Bei jeder Frage, die Hanna stellte, gab sie sich schweigend auch selbst eine Antwort. Was wollte sie selbst? In zehn Jahren, würde sie da noch am Leben sein? Oder war sie dann auch weg? Wer war der Mann, den sie zu treffen hoffte? Wenn sie es wirklich hoffte?
    Und Kinder? Konnte sie daran denken, solange sie in vieler Hinsicht selbst noch ein Kind war?
    Gegen Ende Februar begann es unerwartet zu tauen. Wenn sie die Zeit fanden, spazierten sie an den Abenden durch die Stadt. Berta führte sie herum, tat es mit Stolz, einem Gefühl, sowohl etwas zu besitzen als auch eine Antwort zu haben. Sie wusste etwas, was Hanna nicht kannte. Die Stadt gehörte ihr.
    Hin und wieder stellte Berta Fragen nach dem Ort, an dem Hanna gelebt hatte, ehe sie mit Forsman nach Sundsvall gekommen war. Aber Hanna merkte bald, dass Berta an dem, was sie zu erzählen hatte, eigentlich nicht interessiert war. Oder vielleicht war es so, dass Berta, die nur die Stadt kannte, sich nicht vorstellen konnte, wie es an einem Fluss unterhalb eines hohen Fjälls aussah.
    Die Gemeinschaft mit Berta war für Hanna etwas ganz Neues. Während der Zeit, in der sie in Forsmans Steinhaus wohnte, wurden Berta und sie Freundinnen und wagten es, Vertraulichkeiten auszutauschen. Fast jeden Abend lagen sie in ihrem gemeinsamen Bett und flüsterten miteinander. Hanna dachte, noch nie habe sie eine Freundin wie Berta gehabt. Was sie mit ihren Geschwistern oder mit ihrer Mutter verbunden hatte, war nicht vergleichbar.
    Sie sprachen über die schwierigen Dinge des Lebens: Liebe, Kinder, Männer. Hanna verstand bald, dass Berta ebenso wenig Erfahrung hatte wie sie selbst. Und beide wussten nicht, was sie im Leben erwartete.
    An den Abenden, an denen sie spazieren gingen, immer Arm in Arm, Schals um Haare und Kinn geschlungen, kam es vor, dass gleichaltrige Jungen, die herumlungerten, ihnen etwas nachriefen. Aber sie antworteten nicht, beschleunigten die Schritte, auch wenn sie später kichernd kommentierten, was geschehen war.
    Wir sind noch nicht so weit, dachte Hanna. Aber eines Tages werden wir stehenbleiben und mit diesen Jungen sprechen.
     
    Wenn sie nicht mit der Arbeit beschäftigt waren, versuchten sie, gemeinsam lesen zu lernen. Ihre Kenntnisse waren gleichermaßen gering. Berta hatte ein abgegriffenes Abc-Buch von einer Köchin bekommen, die früher in Forsmans Haus gearbeitet hatte. Sie beugten sich darüber, buchstabierten sich durch die Wörter, hörten einander ab und liehen sich bald heimlich Bücher aus Forsmans Bibliothek. Es dauerte nicht lange, und sie konnten einander mit wachsender Sicherheit vorlesen.
    Hanna würde nie den Moment vergessen, als die Buchstaben nicht mehr vor ihren Augen hüpften. Als sie ihr keine Fratzen mehr schnitten, sondern Wörter und Sätze bildeten und schließlich ganze Erzählungen, die sie verstehen konnte.
    In dieser Zeit fiel Hanna zufällig ein portugiesisches Wörterbuch in die Hände. Es kam vor, dass Forsman Bücher und Schriften aus seiner

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