Erinnerungen der Nacht
büßen!“, rief er, als er weiter von ihr entfernt war und sich sicherer fühlte. Er ging einem näher kommenden Fahrzeug entgegen. „Ich sorge dafür, dass Sie es büßen. Sie alle.“
„Ja. Ich weiß, das werden Sie versuchen. Ein letztes Wort, mein Teuerster, dann muss ich gehen. Ihr Geschmack auf meinen Lippen hat großen Appetit in mir geweckt.“
„Sie sind ein Tier!“
Sie lächelte bedächtig. „Ganz genau. Ein Raubtier, um genau zu sein. Und wenn Sie Roland noch einmal zu nahe kommen, werden Sie meine Beute. Glauben Sie mir, wenn ich Roland rächen muss, wird es kein angenehmes Erlebnis für Sie. Ich tue Ihnen weh, Curtis Rogers. Sie werden sich vor mir winden.“
Sie ließ ihn mit einem plötzlichen Ausbruch von Geschwindigkeit stehen, wohl wissend, dass es für seine Menschenaugen so aussehen musste, als wäre sie einfach verschwunden. Er würde nicht zum Schloss gehen. Jedenfalls nicht gleich. Sie dachte, sie hätte ihn davon überzeugt, dass Roland und der Junge ein Flugzeug bestiegen hatten und mit unbekanntem Ziel verschwunden waren. Er war so leicht auf sie hereingefallen. Zuerst würde er andernorts suchen. Für die Dauer der nahenden Dämmerung würden sie in Sicherheit sein. Dennoch galt es, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Rhiannon raste zu dem kleinen gemieteten Haus außerhalb von L’Ombre, um sie auszuführen, und natürlich, um ihre Katze zu holen.
Roland hatte keine Ahnung, wohin sie gegangen war oder wann sie zurückkehren würde. So war sie eben. Unstet. Sprunghaft. Unbelehrbar. So gut wie unwiderstehlich. Er stöhnte verhalten. Nicht einmal im Zorn konnte er sein Verlangen vergessen.
Als sie vorhin Jamey angesehen hatte, hätte Roland schwören können, dass er so etwas wie aufrichtige Zuneigung an ihr bemerkt hatte. Aber es lag auf der Hand, dass sie etwas für den Jungen empfinden musste. Er gehörte zu den Auserwählten. Er war ein Mensch, der die beiden seltenen Eigenschaften, die alle Vampire als Menschen gehabt hatten, in sich trug – jene einzigartige Verknüpfung, die ihnen ermöglichte, verwandelt zu werden: Die Ahnenreihe, die Prinz Vlad den Pfähler einschloss, die aber, allen Theorien seines Freundes Eric Marquand zum Trotz, noch viel weiter zurückreichte, und das Antigen namens Belladonna in seinem Blut. Ein Mensch mit diesen Eigenschaften wird, auch wenn er selbst es vielleicht nicht einmal bemerkt, zum Mündel der Untoten. Vampire wachen über solche Individuen, besonders über Kinder. Sie können nicht anders. Und alle übernatürlichen Wesen spüren ihre Anwesenheit, ebenso jeden Hauch einer Gefahr für sie. Und doch werden die Auserwählten selten verwandelt oder auch nur kontaktiert. Die meisten gehen durchs Leben und erfahren nie etwas von ihrer psychischen Verbindung mit einer Gesellschaft, die sie für einen reinen Mythos halten.
Die Situation mit Jamey war einzigartig. Um ihn zu beschützen, war Roland nichts anderes übrig geblieben, als die jetzige Lage herbeizuführen. Die Leute vom DPI wussten von Jameys Eigenschaften, von seiner Verbindung nicht nur zu einem, sondern zu drei – nein, vier – Vampiren. Der Junge war von unschätzbarem Wert für sie. Sie würden vor nichts zurückschrecken, um ihn zu bekommen, ihn in einem ihrer diabolischen Labors festzuhalten und zahllose qualvolle Experimente mit seinem jungen Körper durchzuführen, während sie auf die unweigerliche Ankunft seiner Beschützer warteten.
Und obwohl das alles so war, hatte Rhiannon sich wieder einmal in Luft aufgelöst.
Aber das wusste er besser, oder nicht? Sie mochte unberechenbar sein, aber nicht treulos. Sorglos war sie nur, was ihre eigene Sicherheit betraf. Nicht die anderer. Er wollte wütend auf sie sein, aber stattdessen machte er sich Sorgen. Sie war fort, ja, aber wo steckte Rogers? Bei ihr? Sie war schon einmal von einem Mann wie ihm gefangen genommen worden. Könnte sie unvorsichtig genug sein, dass sie wieder in deren Händen landete?
Kaum war Jamey wohlbehalten und unter Aufsicht von Frederick in dem renovierten Apartment im Ostflügel untergebracht, traf Roland die Entscheidung, nach ihr zu suchen. Was ihr zweifellos missfallen würde. Sie machte gern, was sie wollte, ohne Einmischung anderer. Aber er glaubte, dass sie in Gefahr sein könnte, und diese Möglichkeit konnte er nicht außer Acht lassen.
Doch schon ehe er zur Tür kam, spürte er ihre Anwesenheit. Einen Augenblick später merkte er, dass er ein ungeheures Gefühl der Erleichterung empfand, das
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