Erinnerungen der Nacht
ab. Er hatte ja so recht.
„Du wolltest es so sehr wie ich, Angelica. Wir sind beide erwachsen. Warum bist du jetzt so entsetzt?“
„Du bist schuld daran, dass ich es wollte“, flüsterte ich, obwohl ich genau wusste, dass er die Wahrheit sagte. Ich hatte dieses Verlangen nach ihm seit der ersten Nacht verspürt. Es war der Hauptgrund, warum ich ihn damals genommen hatte, beim ersten Mal. Nicht nur Hunger, sondern Lust. Und schon damals hatte ich mich von ganzem Herzen dagegen gewehrt.
„Ich habe versucht, dich aufzuhalten“, murmelte er, als ich vom Bett aufstand und die Decke mit mir zog. „Aber, Angel, du hast mich dazu getrieben …“
Ich biss die Zähne aufeinander, kämpfte gegen die Tränen und wandte mich von ihm ab.
„Du ekelst dich davor, was du getan hast, richtig?“, fragte er. „Du schämst dich. Ist es nicht so, Angel?“
„Natürlich schäme ich mich!“ Ich schrie es fast hinaus.
„Ja. Ja, natürlich schämst du dich. Du bist abgestoßen. Du hast dich deinen körperlichen Begierden ergeben und mit einem Monster geschlafen. Einem Mann, den du verabscheust, und allein bei dem Gedanken willst du dich übergeben.“
Ich schüttelte verneinend den Kopf. Das hatte er ganz falsch verstanden. Ich hatte schon entschieden, dass er kein Monster war, dass ich mich irrte. Meine eigene laszive Art schockierte mich, stieß mich ab. Nicht er. Gott, ich schämte mich so sehr.
„Komm wieder ins Bett, Angelica“, sagte er sehr leise. „Sieh dich doch an, du kannst dich kaum auf den Beinen halten. Draußen geht die Sonne auf. Du kannst nicht mehr wach bleiben.“
Aber ich beachtete ihn gar nicht, sondern ging ins Nebenzimmer, wickelte die Decke um mich und ließ mich auf dem Sofa nieder. Meine Glieder fühlten sich schwer an. Mein Gehirn umwölkt und träge. Ich wusste, es dämmerte. Mein Körper spürte den Sonnenaufgang wie jede Nacht, seit man mich in diese Kreatur verwandelt hatte. Eine Kreatur unmoralischer Begierden und unkontrollierbaren Hungers. Eine Kreatur der Sünde.
Er stand an der Tür und sah mich an, auch er wurde schwächer.
„Lass mich in Ruhe, Vampir“, flüsterte ich. „Ich will mich nicht noch mehr besudeln, indem ich in deinen Armen einschlafe.“
Ich sah Wut in seinen Augen aufleuchten. „In den Armen eines Monsters, meinst du? Ich bin so wenig ein Monster wie du, Angelica. Aber wie du willst. Ich fasse dich nicht noch mal an. Hätte ich auch diesmal nicht, wenn ich vom Blutverlust nicht halb im Delirium gewesen wäre. Glaub mir, mich macht die Aussicht auf Sex mit einer Person, die ich verabscheue, so wenig an wie dich.“ Und damit drehte er sich um und kehrte zu dem Bett zurück, das wir vor so kurzer Zeit noch geteilt hatten.
Also verabscheute er mich. Gerade wollte ich ihn davon überzeugen, dass seine Annahmen falsch waren. Dass ich mich meiner sündigen Natur schämte und nicht, weil ich mich ihm hingegeben hatte. Weil ich ihn wollte. Denn wenn ich überhaupt jemanden begehrte, schien es logisch, dass er es sein sollte. Kein anderer Mann hatte jemals solche Gefühle in mir geweckt. Nein, ich schämte mich der Begierde selbst, nicht ihres Objekts.
Gut, dass ich ihm nichts gesagt hatte. Nun wusste ich endgültig, dass er mich verabscheute und missbilligte, wie ich mich auf ihn gestürzt hatte.
Ich schämte mich umso mehr, als ich die verzweifelte Sehnsucht verspürte, zu ihm ins Nebenzimmer zu gehen und seinen nackten Körper wieder an meinem zu spüren. Mich gelüstete immer noch nach ihm. Mehr als vorher. Es schien, als hätten sich unsere Seelen vereinigt. Das Gefühl hatte ich schon einmal gehabt, als ich von ihm trank. Aber jetzt kam es mir gewaltiger und intensiver vor. Sollte ich wieder mit ihm schlafen, würde sich das Band zwischen uns noch festigen. Jedes Mal, wenn ich meinem Verlangen nachgab, würde es mehr Macht über mich bekommen. Und ich könnte ihm immer schwerer widerstehen.
Aber ich musste ihm widerstehen, wenn es noch Hoffnung für meine befleckte Seele geben sollte.
„Komm, zieh dich an. Es ist Nacht.“
Ich erwachte und spürte seine Hand auf der Schulter. Ich stieß ihn weg, genau an der Stelle, wo der Verband war, ehe mir klar wurde, was ich tat; ich schrak zurück, eine unwillkürliche Reaktion.
„Der Tagesschlaf ist regenerativ“, erinnerte er mich. „Er heilt uns.“
Ich setzte mich auf, drückte die Decke an die Brust und betrachtete seine Taille, denn ich rechnete damit, das blutige, klaffende Loch zu sehen. Aber da war
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