Erinnerungen der Nacht
Rhiannon.“
„Eines Tages bist du mir dankbar“, teilte sie ihm mit. „Und jetzt geh aus dem Weg, damit Tamara und ich mit der Frau sprechen können, für die du so bereitwillig dein Leben riskiert hättest.“
„Ich würde nicht sagen, dass ich mein Leben riskiert habe“, sagte er, machte aber Platz. Nun wusste er ja, dass Rhiannon Angelica nichts tun würde.
Rhiannon hob die königlichen Brauen. „Dann kennst du mich nicht besonders gut.“ Sie rauschte an ihm vorbei. Mit einem stechenden Blick zur Tür, der die Riegel einfach so öffnete, betrat sie, dicht gefolgt von Tamara, das Schlafzimmer.
„Und jetzt, Jameson“, sagte Roland, ging zu dem kleinen Kühlschrank und öffnete ihn. „Wo halten sie deine kleine Tochter versteckt?“
Rhiannon glich einer Königin der Antike. Sie trug ein hautenges scharlachrotes Kleid, das über den Boden streifte, mit einem dramatisch tiefen Ausschnitt. Ihre Nägel waren lang und spitz und blutrot lackiert.
Tamara sah wie eine ganz normale junge Frau aus. Sie trug Jeans, wie Jameson sie auch immer zu tragen schien, dazu einen türkisfarbenen Pullover mit aufgestickten Blumen. Sie war eine zierliche, sanftmütige Person mit einem herzlichen Lächeln. Von den beiden schien sie mir die Umgänglichere zu sein, jedenfalls die, vor der ich mich weniger fürchtete.
„Hab keine Angst“, sagte Rhiannon mit ihrer dunklen, vollen Stimme und lächelte sogar ein wenig. „Jameson hat uns alles erklärt. Du hast es gehört, nicht?“
Ich nickte, obwohl ich immer noch zitterte. „Mich überrascht … dass er mich überhaupt verteidigt hat.“
„Warum überrascht dich das, Kleines?“, fragte Rhiannon.
„W-weil … er mich hasst.“
Rhiannon warf Tamara einen vielsagenden Blick zu. Tamara blinzelte. „Zweifellos möchte er, dass du das denkst“, sagte sie. „Aber jetzt weißt du es doch besser, oder nicht?“
Ich schloss die Augen, senkte den Kopf und kämpfte mit den Tränen, die gleich hervorbrechen würden. „Ich weiß überhaupt nichts mehr. Nicht, wer ich bin … oder was ich bin. Oder was ich empfinde.“
„Oh …“ Tamara kam zu mir, legte mir einen Arm um die Schulter und drückte mich wie eine Schwester. „Oh Angelica, du weinst ja! Aber, bitte. Alles wird gut. Ich verspreche es dir.“
Ich schniefte und blickte zu ihr auf. Und sah, wie Rhiannon hinter ihr die Augen verdrehte und auf und ab ging. „Wie kannst du nicht wissen, was du bist, Kleines? Du bist eine Unsterbliche! Und dieses Geplapper ist reine Zeitverschwendung. Du solltest dein neues Dasein genießen. Es zelebrieren!“
„Rhiannon, für manche ist das nicht so einfach. Hab Geduld.“ Tamara drehte sich wieder mit sehr großen und sehr gütigen Augen zu mir um. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Verdammte solche gütigen Augen haben könnten. „Es braucht Zeit, Angelica. Aber du wirst bald feststellen, dass du dieselbe Frau bist wie vorher. Die Veränderungen sind rein körperlich. Du nimmst andere Nahrung zu dir und bist jetzt kräftiger. Deine Sinne sind verbessert, und du wirst nie an diesen lästigen ‚natürlichen Ursachen‘ sterben, denen so viele Sterbliche zum Opfer fallen. Du alterst nicht. Aber tief im Innern, wo es zählt, bist du noch dieselbe.“
Ich sah diese Vampirin mit dem reizenden Gesicht und schämte mich mehr denn je. Ich schüttelte den Kopf. „Aber das bin ich nicht . “
„Aber klar doch. Ich beweise es dir. Sag mir, was du getan hast, bevor du verwandelt worden bist.“
Ich blinzelte die Tränen weg. „Ich habe … ich habe bei einem Orden studiert. Noch eine Woche, dann hätte ich das feierliche Gelübde abgelegt und …“ Ich verstummte, als die beiden Frauen sich verblüfft ansahen.
„Du warst …“, flüsterte Rhiannon, „eine Nonne ? “
„Fast“, sagte ich.
„Großer Gott, kein Wunder, dass du so durcheinander bist!“ Rhiannon ging auf und ab. „Ganz sicher keine Kandidatin für die Unsterblichkeit“, tobte sie. „Jedenfalls nicht diese Form davon. Wer hat dich geschaffen? Er hat es mit Gewalt getan, nicht? Du hast ihn sicher nicht darum gebeten! Nenn mir seinen Namen, dann gebe ich ihm eine Lektion, die er nicht mehr …“
„Er … er ist tot.“
Rhiannon blieb mitten im Schlafzimmer wie vom Donner gerührt stehen.
Ich hob den Kopf, sah ihr in die Augen und war bereit, jede Strafe zu akzeptieren, die sie verhängen würde, wenn ich mein dunkles Geheimnis verriet. Ich hatte nicht nur ihren Freund angegriffen und dem Tode nahe
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