Erinnerungen der Nacht
…“
Frederick kam mit den Kerzen und dem Weihrauch zurück. Rhiannon nahm sie und führte Tamara die Steintreppe hinauf, Roland und Eric folgten. Im dritten Stock ging sie an mehreren verfallenen Türen vorbei, ehe sie vor einer stehen blieb. Sie verweilte einen Moment, dann nickte sie. „Die hier.“
„Warum?“ Roland sah sie durchdringend an.
„Einwände?“
Sie sah ihn einen Moment an, während er um eine Entscheidung rang. Warum, wusste sie nicht und redete sich ein, dass es ihr auch einerlei wäre. Er hatte ihr klipp und klar gesagt, was er für sie empfand. Um seine Gefühle wollte sie sich keine Gedanken mehr machen. Ihr einziges Ziel war es, den Jungen zu finden. Dann würde sie fortgehen und nie wiederkommen.
Schließlich seufzte Roland und nickte knapp. „Geh.“
Sie stieß die Tür auf und trat ein, dicht gefolgt von Tamara. Einen Moment verweilte sie in der Dunkelheit und sondierte den Raum mit ihren übernatürlichen Sinnen. Die Außenmauer folgte der Rundung des Turms, aber die drei anderen waren gerade. Zwei Fenster an der runden Außenmauer. Schmale Scharten, außen noch schmaler als innen, und ohne Scheiben, die den Nachtwind abgehalten hätten, der hereinwehte. Zwei Bänke aus dem Stein der Burg, die einander gegenüberstanden, befanden sich unter den Fenstern. Uralte Teppiche bedeckten den Boden, so trocken wie ausgedörrte Kadaver, und knisterten unter Rhiannons Füßen. Die Gobelins, einst brillante Kunstwerke, hingen in Fetzen an den Wänden.
Rhiannon wandte sich an Roland und Eric. „Es wäre besser, wenn ihr zwei unten warten würdet.“
„Und lassen Tamara allein mit dir, damit sie Zauberinnenspielchen spielen kann? Auf keinen Fall, Rhiannon. Ich bleibe.“ Eric betrat das Zimmer, lehnte sich mit dem Rücken an eine Steinmauer und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Eric …“
„Schon gut, Tamara“, meinte Rhiannon. „Ich bin daran gewöhnt, dass mir Männer misstrauen.“
„Das ist nicht …“
Sie unterband Erics Einwände mit einem Blick. „Wenn du unbedingt bleiben musst, brauche ich deine Unterstützung. Du musst vollkommen still und reglos bleiben, und du musst deinen Geist vor uns abschirmen, so gut es geht. Einverstanden?“
„Prima.“
Sie sah kurz zu Roland, obwohl selbst dieser knappe Blick sie mit so intensivem Schmerz erfüllte, dass sie ihn kaum verbergen konnte. „Du merkst gar nicht, dass ich hier bin“, versprach er ihr.
Oh doch, das würde sie.
Sie ging in die Mitte des Zimmers, kniete nieder und wartete, bis Tamara zu ihr kam. „Ich möchte, dass du dich hinlegst“, bat sie, während sie die Kerzen aufstellte und etwas Weihrauch in den Kelch füllte.
„Ich habe Streichhölzer“, bot Roland an.
„Still.“ Rhiannons Flüstern duldete überhaupt keinen Widerspruch; Roland sagte nichts mehr.
Rhiannon streckte sich auf den brüchigen Teppichen aus und legte sich auf den Rücken. Rechts, nahe ihrer Schulter, aber dennoch in sicherer Entfernung, stand eine blutrote Kerze, an ihrer Taille der silberne Kelch mit getrocknetem Weihrauch, nahe ihrer Hüfte die zweite Kerze. Jenseits dieser drei Gegenstände lag die reglose Tamara.
Rhiannon schloss die Augen. „Entspann dich, Tamara. Mach die Augen zu. Verdränge alle Ängste und Sorgen aus deinem Geist. Spüre, wie der Steinboden unter deinem Rücken weicher wird. Atme langsam und tief durch. Gut so. Halte den Atem einen Moment in der Lunge. Zieh alle Nahrung aus der Luft, ehe du sie wieder entweichen lässt. Langsam … langsam. Ja, komplett. Jedes Quäntchen, bis deine Lungen vollkommen leer sind. Jetzt warte … warte … und atme wieder ein. Füll deine Lungen, bis sie platzen, aber langsam. Ja.“
Sie sprach mit leiser, hypnotischer Stimme. „Mit jedem deiner Atemzüge wird der Boden weicher. Spürst du es? Jetzt ist er wie Daunen. Du spürst, wie du darin einsinkst, nicht?“
„Ja.“
„Gut. Und jetzt mach genauso weiter. Ich ebenfalls. Du spürst es, wenn dein Geist frei schwebt, Tamara. Und dann streckst du deine Fühler nach Jamey aus. Denk an ihn. Stell ihn dir vor. Beschwöre die Erinnerung an seinen Geruch herauf. Konzentriere dich auf jede einzelne Locke seines Haars, an sein Lachen, seine warme Berührung. Auf diese Weise findest du ihn.“
Dann begann Rhiannon selbst mit der rituellen Atmung. Sie entspannte sich und sank in den Abgrund ihrer eigenen Psyche hinein. Sie würde sich auf Pandora konzentrieren und hoffen, dass sie durch die Raubkatze einen Hinweis
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