Erinnerungen der Nacht
Stoßseufzer aus, doch der Schmerz in seinem Innern wurde nur noch schlimmer. „Ja, ich habe Jamey. Über ihn habe ich in den vergangenen Tagen eine Menge nachgedacht.“
Sie nahm die Hände von seinem Gesicht und legte sie auf seine Schultern.
„Ich glaube allmählich, du hast recht. Der Junge ist bei seinem leiblichen Vater vermutlich besser aufgehoben. Er braucht ein normales Leben, keines, das von Gefahren und unsterblichen Wesen bestimmt wird. Er sollte in einem Vorstadthaus wohnen, nicht in einer Ruine.“
Sie sog nachdenklich die Luft ein. „Du müsstest dennoch auf ihn aufpassen, selbst wenn du seinen Vater findest. Und es besteht immer die Möglichkeit …“ Sie biss sich auf die Lippen und hatte plötzlich Tränen in den Augen. Roland spürte ihren inneren Schmerz und wunderte sich darüber. „Die Möglichkeit, dass sein Vater ihn nicht will“, sprach sie zu Ende. Sie ließ die Hände an die Seiten sinken und wich seinem Blick aus.
„Rhiannon, was …“
„Aber auch ohne den Jungen hast du Freunde. Eric und Tamara vergöttern dich, Roland.“
„Sie haben einander.“ Er schüttelte den Kopf. Er konnte ihr nicht sagen, wie schrecklich einsam er sich fühlte, wenn er Zeuge ihrer Zweisamkeit wurde. Es führte ihm seine eigene Vereinsamung nur noch deutlicher vor Augen.
„Und was ist mit mir?“ Sie wandte sich ihm wieder zu und hielt seine Hände. „Sag mir nicht, dass du beim Liebesakt mit mir deinen Schmerz nicht vergessen hast. Sag nicht, dass du nicht dieselbe Lust, am Leben zu sein, empfunden hast, die du mir verschaffen konntest.“
Er schloss die Augen. „Das war kein Liebesakt. Ich habe dich angegriffen.“
Sie zog seine Hände zu sich und legte sie um ihre Taille. Dort ließ sie sie, schlang ihm die Arme um den Hals und zog seinen Körper an sich. „Dann machst du es vielleicht beim nächsten Mal richtig.“
Er stieß sie nicht weg. Das konnte er nicht. Als er in die unendlichen Tiefen ihrer Augen sah, brachte er es einfach nicht fertig. „Es darf kein nächstes Mal geben, Rhiannon.“
„Doch. Es muss eines geben.“ Sie presste die Lippen auf seine, teilte sie, schob ihm die Zunge in den Mund.
Er gab sie frei und wandte sich ab. „Nein.“
„Aber Roland, ich …“
„Nein, Rhiannon. Du begreifst es immer noch nicht, oder?“ Er fuhr ihr mit den Händen grob durch das Haar. „So vieles in dir erinnert mich daran, wie ich einst war. Die Impulsivität, die Leidenschaft, die Art, wie du der Gefahr ins Gesicht lachst. Verdammt, Rhiannon, nie fällt es mir so schwer, mein Naturell unter Kontrolle zu halten, als in deiner Gegenwart. Allein deine Anwesenheit weckt Eigenschaften in meiner Seele, die ich ständig zu unterdrücken versuche.“
Sie sagte nichts. Er brachte es nicht fertig, sie anzusehen. Ihr Anblick würde ihn nur wieder verlocken, die Bestie zu befreien. Es war ironisch, dass er das, was er sich am meisten auf der Welt wünschte, nicht haben konnte. Fast schien es, als würden die Götter ihn verspotten, indem sie seine Beute vor seiner Nase baumeln ließen, nur damit er für seine Sünden büßte. „Rhiannon, manchmal glaube ich, dass du meine Strafe bist. Mein Fluch.“
Er drehte sich um und erstarrte. Einen solchen Schmerz hatte er noch nie in ihren Augen gesehen. Und doch blieben sie trocken. Groß, verletzt und vollkommen trocken. Sie wandte sich ohne ein Wort ab und ging durch das schmiedeeiserne Tor hinaus. Doch ihr schneller Schritt wurde langsamer, als Eric draußen wie ein Gespenst aus dem Nebel auftauchte.
„Rhiannon, Gott sei Dank habe ich dich gefunden. Ist Roland …“
„Hier, Eric“, rief Roland. Er kam näher und betrachtete Rhiannons betroffenes Gesicht. Er hatte ihr wieder wehgetan. Diesmal sogar sehr. Er spürte es so sicher wie den feuchten Wind vom Fluss im Gesicht und hatte keine Ahnung, wie er es wiedergutmachen sollte und ob er das überhaupt konnte.
„Entschuldigt mich“, sagte sie und lief stolpernd in den dichteren Teil des Waldes.
Roland wollte ihr folgen, doch Eric legte ihm eine Hand auf die Schulter und hielt ihn auf. In der Ferne hörte er, wie sich Rhiannon würgend übergab. Er schüttelte Erics Hand ab und wollte ihr wieder folgen.
„Verdammt, Roland, hör mir zu. Jamey ist fort.“
Roland blieb auf dem dunklen Trampelpfad stehen; Nebel wallte um seine Beine, klamme Luft vom Fluss strömte ihm in die Lungen. Eine eiskalte Hand schloss sich um das Herz in seiner Brust. Er drehte sich um. „Fort? Was meinst du
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