Erknntnisse eines etablierten Herrn
dem Totschläger, der ihn nach unten zieht, wenn man nicht aufpaßt. Sie sind eigentlich eine Zumutung, diese Gewaltinstrumente gegen Vergeßlichkeit. Doch sie erleichtern den Überblick. Auch der kurzsichtigste Portier kann sofort feststellen, ob ein Gast auf seinem Zimmer ist oder nicht.
»Hallo! Fall’ nicht in Ohnmacht.«
So weit hat Lukas sein Zimmer noch gar nicht wahrgenommen, um schon erschrecken zu können, holt es aber sofort nach: Auf der Frühstückshörnchenlehne des Sessels liegen Kleid und Unterwäsche; die Schuhe vor dem Bett zeigen zwanzig nach elf. Im Bett liegt Andrea. »Wie bist du hier reingekommen?«
»Ich komm überall rein.«
»Warum machst du das? Wir wollten telefonieren. Ich mag solche Überraschungen nicht.«
»Ich bin doch keine Überraschung mehr für dich!«
Sie sagt es nicht vorwurfsvoll, sondern selbstverständlich, als wären sie schon lange verheiratet. Er steht immer noch da, wo ihn die Überraschung gestoppt hat.
»Du bist ein kleines, freches Biest, Andrea! ich...«
»Komm, sei still.« Ihr Ton ist warm. »Ich weiß, du willst dich jetzt ausruhen. Leg dich her. Ich werde ganz ruhig sein. Ganz bestimmt.« Ruhig folgen ihre Augen seinen Bewegungen, wie er die Jacke über den Stummen Diener hangt, die Krawatte löst, den Kragen öffnet. Seine innere Abreise wird nicht verzögert: Telefonieren muß er noch, sich verabschieden; Renate wird anrufen. Daniela... Keine Komplikationen mehr. Lillys Party! Er hängt den Anzug raus an den Türhaken. Als er sich aufs Bett setzt, um die Schuhe auszuziehen, fragt Andrea:
»Wie war’s bei deinen alten Freunden?«
»Das erzähl’ ich dir später.«
Er sieht sie nicht an; beim Aufziehen des Schnürsenkels hat es am linken Schuh einen Knoten gegeben. Mit seinen kurzen Fingernägeln nestelt er.
»Kann ich dir helfen?« fragt sie sanft. Er lacht.
»Da bist du keine Hilfe, alte Nagelbeißerin!«
»Nicht mehr! Seit du da bist: nicht mehr.«
Sie sagt .es zutraulich wie ein Kind, das von jetzt an brav sein will, und er nickt wie ein Vater, der so tut, als ob er’s glaubt. In Zeitlupe sinkt er nach hinten auf die Decke, unter der sie liegt, ruhig, wie versprochen, mucksmäuschenstill. Nur ihr Atem streicht über seinen Handrücken. Es hat sich ergeben, daß sie in seinem Arm liegt, am Schultermuskel (nicht auf dem Bizeps, was er haßt, weil da der Arm einschläft). So kann der Arm nicht einschlafen, samt Lukas nicht. Doch das liegt wohl an der inneren Abreise.
Sehr angenehm, ihr Atem.
Als habe er sie laut gelobt, dreht sie sich ihm zu, kuschelt sich an seine Brust. auch er hat sich zur Seite gedreht, mag nicht auf dem Rücken liegen. Sie atmet im selben Rhythmus, fällt ihm auf, hält die Augen geschlossen, er nicht. Er hat seinen Lieblingsblickwinkel bezogen, ist neben sich getreten, sieht sich daliegen mit ihr, die feindlichen Generationen vereint, zärtlich vereint, denn inzwischen hat sie einen Arm um ihn geschlungen. Daran wird er sich erinnern, morgen zu Haus.
Er wird nervös.
»Ich muß telefonieren.«
»Sag mir die Nummer, ich verbinde dich.«
Sie hat sich aufgesetzt, holt den Apparat ins Bett. Wo kann er jetzt anrufen, eine unverfängliche Adresse? Auswendig nennt er die Nummer der beiden Wolfgänge. So lang ist er dagewesen, daß er schon wieder Nummern behält. Er muß vorsichtig sein: Wenn Andrea erfährt, daß er morgen fliegt, gibt es todsicher Komplikationen.
»Bitte sehr.«
Eine Hand mit abgebissenen Nägeln hält ihm den Hörer hin. Er übernimmt, legt sich zum Sprechen wieder zurück, liegt unbequem auf einer Wurst von Decke, setzt sich auf, während er irgend etwas in den Hörer sagt, ob die beiden gut nach Hause gekommen sind und so weiter. Andrea macht sich hinter ihm zu schaffen, drückt ihn zurück ins Kissen, das Bett ist geglättet, er hat’s bequem. Sie bleibt neben ihm sitzen, lächelt ihn an, holt sich seine freie Hand, küßt die Fingerspitzen und tut so, als wolle sie ihm die Nägel abbeißen.
Da sich die Wolfgänge am Hörer abwechseln und sowieso immer Druckreifes parat haben, dehnt sich das Gespräch.
Ihm ist es recht, und Andrea läßt ihn gewähren. Sie hat sich einen anderen Zeitvertreib einfallen lassen: Sie knöpft ihm das Hemd auf.
»Wenn man der Welt nur denkend begegnet, muß man Pessimist werden«, verkündet der Ältere. »Deswegen bin ich Optimist geblieben. Trotz mancher Denkanstrengung im Gleichschritt mit dem Zeitgeist und dagegen, habe ich es nie geschafft, meine Naivität zu
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