Erlösung
richtige Miene aufsetzen, eine extrem besorgte Miene.
Er las weiter. Das wurde ja immer besser! Da stand doch tatsächlich, dass Familienmitglieder oder enge Freunde eines Patienten Tag und Nacht auf der Station willkommen seien.
Enge Freunde, Tag und Nacht!
Er überlegte. Da war es geschickter, sich als guter Freund auszugeben, das war schwerer nachzuprüfen. Ein enger Freund von Rachel. Einer aus ihrer Gemeinde. Er würde sich den singenden Dialekt Mitteljütlands zulegen, das würde rechtfertigen, warum er so lange blieb. Er kam immerhin von weit her.
Das alles und noch mehr stand in dem Besucherleitfaden.Dass man im Raum für Angehörige warten solle, wo man sich Tee und Kaffee zubereiten könne. Dass tagsüber Gespräche mit den Ärzten möglich seien. Es gab hübsche Fotos von der Zimmereinrichtung und präzise Beschreibungen der Apparaturen und Überwachungsgeräte, mit denen dort gearbeitet wurde.
Er betrachtete die Fotos der Überwachungsinstrumente. Ihm war bewusst, dass er schnellstmöglich töten und dann ruckzuck verschwinden musste. In dem Moment, wo auf einer Intensivstation ein Patient starb, schlugen alle Instrumente Alarm. Das Personal im Überwachungsraum würde sofort Bescheid wissen. In null Komma nichts würden sie zur Stelle sein. Sekunden später würden Wiederbelebungsversuche gestartet. Immerhin waren das lauter Profis.
Er musste also nicht nur schnell töten, sondern auch so, dass eine Wiederbelebung unmöglich war. Und vor allem war es wichtig, dass man nicht sofort Verdacht schöpfte, die Todesursache könne eine widernatürliche sein.
Er brauchte eine halbe Stunde vor dem Spiegel. Zog Falten über die Stirn, setzte eine neue Perücke auf, veränderte den Bereich um die Augen.
Zufrieden betrachtete er das Resultat. Ein zutiefst besorgter Mann. Älter, mit Brille, graumeliertem Haar und schlechter Haut. Ziemlich weit von der Wirklichkeit entfernt.
Er öffnete die Spiegeltür des Medizinschranks, zog eine Schublade auf und nahm vier Plastikverpackungen heraus.
Ganz gewöhnliche Spritzen, wie man sie rezeptfrei in der Apotheke kaufen konnte. Ganz gewöhnliche Kanülen, wie sie Tag für Tag Tausende Junkies benutzten – mit dem Segen der Gesellschaft.
Mehr brauchte er nicht.
Nur die Spritze mit Luft füllen, die Kanüle in eine Ader stechen und den Spritzenstempel hinunterschieben. Der Tod würde schnell eintreten. Er würde von einem Zimmer zumanderen huschen, und noch ehe der Alarm losging, hätte er sie alle beide erledigt.
Alles eine Frage des Timings.
Er suchte nach Station 4131. Sobald man die Nummer der Station kannte, wusste man, welchen Eingang man nehmen, in welches Stockwerk man fahren und welchen Abschnitt man suchen musste, so stand es jedenfalls im Wegweiser des Rigshospitals.
Aufgang 4, 13. Etage, 1. Abschnitt. So hätte es sein sollen. Aber der Aufzug ging nur bis zum siebten Stock.
Er sah auf die Uhr. Bald war Schichtwechsel, er hatte keine Zeit zu vergeuden.
Er überholte zwei dieser Krückenhusaren, die überall herumhumpelten, und trat an den Informationsschalter am Haupteingang. Der Mann hinter der Glasscheibe hatte vermutlich mal einen besseren Job gehabt, aber er antwortete freundlich und effektiv.
»Nein, das müssen Sie anders lesen. Das ist Eingang 41, 3. Stock, Abschnitt 1. Gehen Sie zu Aufgang 3, und dort nehmen Sie den Aufzug.«
Er deutete in die entsprechende Richtung und schob sicherheitshalber noch einen fotokopierten Zettel durch die Luke, wo er die Nummer mit Kuli eingetragen hatte.
Der Patient liegt auf Station …
, stand dort vorgedruckt, und dann kam die Nummer.
Na also! Was für ein perfekter Wegweiser zum Tatort!
Er stieg im dritten Stock aus und sah sofort das Schild:
Intensivstation, Abteilung 4131
. Dort hinein führte eine geschlossene Doppeltür mit weißen Spanngardinen. Hat was von einem Beerdigungsinstitut, dachte er und lächelte. Na, das war es ja irgendwie auch.
Das Tempo dort drinnen entsprach hoffentlich nicht dem hier draußen auf dem Korridor, wo keine Menschenseele unterwegswar, überall leere Gitterwagen herumstanden und jeder Schritt hallte.
Er stieß die Schwingtür auf.
Die Station war nicht groß, wirkte aber so, und das Ausmaß an Energie, das sich hier drinnen entfaltete, überraschte ihn dann doch. Er hatte eher mit großer Konzentration und stiller Arbeit gerechnet, aber so war es nicht, jedenfalls nicht im Moment. Aber das mochte am bevorstehenden Schichtwechsel liegen.
Auf dem
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