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Erlösung

Erlösung

Titel: Erlösung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jussi Adler-Olsen
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schräg stehenden Augen und diese durchscheinende Haut, unter der sich das Geflecht der Adern abzeichnete.
    Zweimal hatte er sich bereits dicht ans Haus herangeschlichen und den Teerklumpen herausgezogen, mit dem das Guckloch abgedichtet war. Wenn er mit dem Kopf ganz nahe heranging, konnte er drinnen alles sehen. Die Kinder hockten nur wenige Meter voneinander entfernt. Samuel weit drinnen im Raum, Magdalena an der Tür.
    Magdalena weinte viel, aber leise. Wenn in dem schwachen Licht ihre zarten Schultern zu beben anfingen, rüttelte ihr Bruder an seinem Lederriemen, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Der Blick seiner warmen Augen sollte sie trösten.
    Er war ihr großer Bruder, und er würde alles tun, um sie von diesen Riemen loszubekommen, die so tief in ihre Haut einschnitten.Nur konnte er nichts tun. Deshalb weinte auch er, aber das wusste sie nicht. Das sollte sie nicht sehen. Er wandte kurz den Kopf ab, bis er sich wieder gefasst hatte. Dann sah er wieder zu ihr hin und kasperte ein bisschen, indem er mit dem Kopf nickte und mit dem Oberkörper wackelte.
    Genau wie er und seine Schwester, damals, als er Chaplin imitierte.
    Er hatte gehört, wie Magdalena dort drinnen hinter dem Klebeband lachte. Einen winzigen Moment lang hatte sie gelacht, dann hatten die Realität und die Angst sie wieder eingeholt.
    An diesem Abend kam er zurück, um ihren Durst ein letztes Mal zu stillen. Schon von Ferne hörte er das Mädchen leise singen.
    Er legte das Ohr an die Bretterwand des Bootshauses. Sogar trotz des Klebebandes hörte man, wie klar und hell ihre Stimme war. Die Worte kannte er. Die hatten ihn während seiner gesamten Kindheit begleitet, und er hasste sie alle, bis zum letzten Buchstaben.
    Näher, mein Gott, zu Dir,
    Näher zu Dir!
    Drückt mich auch Kummer hier,
    Drohet man mir,
    Soll doch trotz Kreuz und Pein
    Dies meine Losung sein:
    Näher, mein Gott, zu Dir,
    Näher zu Dir!
    Da zog er vorsichtig den Teerklumpen aus dem Guckloch und spähte mit der Nachtsichtbrille ins Innere des Bootshauses.
    Mit vorgebeugtem Kopf und hängenden Schultern sah Magdalena kleiner aus, als sie war. Im Rhythmus des Gesangs rollte ihr Körper langsam von einer Seite auf die andere.
    Und als sie fertig war, saß sie da und sog in kurzen, heftigen Zügen Sauerstoff durch die Nase ein. Wie bei erschreckten kleinen Tieren meinte man fast zu spüren, wie hart das Herz arbeiten musste, um mit all den Herausforderungen Schritt halten zu können. Mit Hunger und Durst, mit den Grübeleien und der Angst vor dem, was kommen mochte.
    Als er seinen grünlichen Nachtsicht-Blick Samuel zuwandte, erfasste er unmittelbar, dass der Junge nicht in gleicher Weise niedergeschlagen und apathisch war wie seine Schwester. Ganz im Gegenteil wetzte er mit dem Oberkörper unablässig an der abgeschrägten Wand entlang. Und keinesfalls, um Clownerien zu veranstalten.
    Nein, das schleifende Geräusch, das er gerade noch dem betagten Generator zugeschrieben hatte, kam ganz eindeutig aus Samuels Richtung.
    Schlagartig wurde ihm klar, was der Junge vorhatte. Er schabte mit dem Lederriemen an den Planken der Wand entlang. Mühte sich nach Kräften ab, damit der Riemen nachgab.
    Vielleicht hatte er einen kleinen Vorsprung am Holz gefunden, vielleicht ein Aststück, an dem er das Leder entlangscheuern konnte.
    Er sah jetzt das Gesicht des Jungen klarer. Lächelte er? War er mit seinem Vorhaben schon so weit, dass er Grund dazu hatte?
    Das Mädchen hustete etwas. Die letzten Nächte waren feuchtkalt gewesen und hatten an ihr gezehrt.
    Wie schwächlich ihr Körper ist, dachte er, als sie sich räusperte. Dann fing sie hinter dem Klebeband wieder an zu singen.
    Er war geschockt. Dieses Lied war ein unabänderlicher Bestandteil aller Beerdigungen gewesen, die sein Vater zelebriert hatte.
    Bleib bei mir, Herr! Der Abend bricht herein.
    Es kommt die Nacht, die Finsternis fällt ein.
    Wo fänd ich Trost, wärst Du, mein Gott, nicht hier?
    Hilf dem, der hilflos ist: Herr, bleib bei mir!
     
    Wie bald verebbt der Tag, das Leben weicht,
    die Lust verglimmt, der Erdenruhm verbleicht;
    umringt von Fall und Wandel leben wir.
    Unwandelbar bist Du: Herr, bleib bei mir.
    Angewidert drehte er sich um und ging zurück zum Schuppen. Dort zog er zwei schwere, anderthalb Meter lange Ketten von ihrem Nagel an der Wand und holte aus der Schublade unter der Hobelbank die beiden Hängeschlösser hervor. Ihm war beim letzten Mal schon aufgefallen, dass die Lederfesseln um den Leib

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