Erlösung
freilassen.
Er würde Samuel Anweisungen geben, was er seinen Eltern sagen sollte, damit sie wussten, womit sie zu rechnen hatten.Dass der Mörder seiner Schwester Informanten habe und immer genau wisse, wo sich die Familie gerade befinde. Dass sie genug Kinder hätten, er es also jederzeit wieder tun könne. Sie sollten sich nicht zu sicher fühlen. Beim geringsten Verdacht, dass sie mit irgendjemandem geredet hätten, würde sie das ein weiteres Kind kosten, das sollte Samuel ihnen erzählen. Für diese Drohung galt keine zeitliche Begrenzung. Außerdem sollten sie wissen, dass er sein Äußeres ständig verändere. Der Mensch, den sie zu kennen glaubten, existierte überhaupt nicht.
Das hatte bisher jedes Mal gewirkt. Die Familien hatten ihren Glauben, in den sie sich flüchteten, dort begruben sie ihren Kummer. Die toten Kinder wurden beweint und die lebenden geschützt. Hiobs Geschichte war ihr Anker.
In ihrem Bekanntenkreis würden sie das Verschwinden des Kindes mit Verstoßung begründen. Das taten alle Familien. Aber in diesem Fall war die Erklärung tatsächlich glaubwürdig, denn Magdalena war anders, fast zu strahlend – und das war nicht von Vorteil in diesen Kreisen. Ihre Eltern würden sagen, sie sei irgendwo in Pflege gekommen. Für die Gemeinde wäre der Fall damit erledigt.
Er lächelte.
Bald würde es wieder einen weniger geben von denen, die Gott an die Stelle der Menschen setzten und mit ihrem Fanatismus die Welt verpesteten.
Zum Zusammenbruch der Pfarrersfamilie kam es an einem Wintertag, wenige Monate nach seinem fünfzehnten Geburtstag. In den Monaten davor waren mit seinem Körper sonderbare und unerklärliche Dinge geschehen. Sündige Gedanken, vor denen die Gemeinde warnte, verfolgten ihn auf einmal. Und als sich eines Tages unweit von ihm eine Frau in einem engen Rock bückte, bekam er am selben Abend mit diesem Bild auf der Netzhaut seinen ersten Samenerguss.
Er spürte den Schweiß in den Achselhöhlen. Die Stimme rutschte in alle Richtungen weg. Die Nackenmuskulatur wurde kräftig, und überall sprossen dunkle und borstige Körperhaare.
Plötzlich fühlte er sich wie ein Maulwurf, der sich aus seinem Acker herausgearbeitet hatte und verunsichert ins grelle Tageslicht blinzelte. Wenn er sich anstrengte, konnte er sich schwach in den Jungs der Gemeinde wiedererkennen, die diese Transformation vor ihm durchgemacht hatten. Aber worum es eigentlich ging, das wusste er nicht. Das war kein Thema, in dessen Nähe man in diesem Zuhause kam, mit diesem Vater, der ihre Familie als »Erwählte Gottes« bezeichnete.
Drei Jahre lang hatten sich seine Eltern nur dann an ihn gewandt, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ. Sie sahen nicht, dass er sich Mühe gab, sie merkten niemals, wenn er sich in den Gebetsstunden ganz besonders anstrengte. Für sie war er nur ein Spiegel des Teufels namens Chaplin und nichts sonst. Was er auch tat, es war bedeutungslos.
In der Gemeinde galt er als Sonderling, wenn nicht sogar als Besessener, und die Gemeindemitglieder versammelten sich zum Gebet, auf dass nicht alle Kinder werden würden wie er.
Nur Eva war geblieben. Seine kleine Schwester, die ihn gelegentlich im Stich ließ und unter dem Druck des Vaters erzählte, dass er hinter dem Rücken der Eltern schlecht über sie rede und Gottes Wort nicht gehorchen wolle.
Damals hatte sein Vater es sich zur zweiten Mission in diesem Dasein erkoren, ihn zu brechen. Permanente Befehle ohne Ziel und Zweck. Hohn und Schimpf als tägliche Kost, und als Dessert Schläge und Psychoterror.
Anfangs gab es ein paar Menschen in der Gemeinde, bei denen er Trost fand, aber auch das hörte auf. In diesen Kreisen türmten sich Gottes Zorn und Fluch über das Erbarmen der Menschen, und in einem solchen Schatten ist der fromme Mensch sich selbst und Gott der Nächste. Sie kehrten ihm denRücken und entschieden sich für die andere Seite. Schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, als auch die andere Wange hinzuhalten.
Genau so, wie es die Bibel vorschrieb.
In diesem Schattenheim, wo nichts gedeihen konnte, welkte die Beziehung zwischen Eva und ihm langsam dahin. Lange hatte sie sich immer wieder bei ihm entschuldigt, und lange hatte er den Vater reden lassen und sich taub gestellt. Schließlich fand er auch in ihr keine Unterstützung mehr.
Und an diesem Wintertag nahm das Unheil seinen Lauf.
»Mit dieser Stimme klingst du wie ein quiekendes Schwein«, hatte sein Vater gesagt, ehe sie sich in der Küche zu Tisch
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