Erlösung
setzten. »Und so siehst du auch aus. Wie ein Schwein. Schau doch mal in den Spiegel, dann weißt du, wie hässlich und plump du bist. Schnüffele mal mit deinem scheußlichen Rüssel, dann merkst du selbst, wie du stinkst. Los, geh raus und wasch dich!«
Das war der Stil, in dem er seine Gemeinheiten auszuspucken pflegte. Kleinigkeiten, wie die Aufforderung, sich zu waschen, wurden listig und penetrant vervielfacht. Letztlich lief es immer nach dem gleichen Muster ab. Wenn sein Vater erst mit seinem Sermon fertig war, würde er bestimmt noch von ihm verlangen, sämtliche Wände seines Zimmers abzuscheuern, damit der Gestank verschwände.
Warum also den Stier nicht gleich bei den Hörnern packen?
»Wenn du mit deinem Herumkommandieren so weit bist, soll ich doch bestimmt gleich die Wände in meinem Zimmer mit Lauge abschrubben, oder? Aber das kannst du selbst machen, du Tyrann«, schrie er.
An dem Punkt begann sein Vater zu schwitzen und seine Mutter zu protestieren. Wer war er denn, so mit seinem Vater zu reden?
Seine Mutter, er kannte sie doch, würde versuchen, ihn mürbe zu machen. Sie würde ihn so lange bitten, aus ihrem Leben zu verschwinden, und mit ungerechtfertigten Anwürfenund Vorhaltungen traktieren, bis er es satthatte, die Tür hinter sich zuknallte und die halbe Nacht wegblieb. Diese Taktik hatte sie oft erfolgreich benutzt, wenn sich die Lage zuspitzte. Aber heute nicht.
Er merkte, wie sich sein neuer Körper straffte. Spürte das Blut in der Halsschlagader, die Muskeln. Kam ihm sein Vater mit der geballten Faust zu nahe, würde er Bekanntschaft mit diesem neuen Körper machen.
»Du Schwein, lass mich in Ruhe!«, warnte er. »Ich hasse dich! Wie die Pest! Wenn du doch Blut spucken würdest, du Hurenbock. Bleib mir vom Leib!«
Zu sehen, wie dieser scheinheilige Mensch zusammenstürzte in einer Wolke von Wörtern, die der Teufel selbst in die Welt gebracht hatte, wurde zu viel für Eva. Das scheue Veilchen, das sich hinter der Küchenschürze und den hausfraulichen Verrichtungen verkroch, sprang auf und schüttelte den Bruder.
Er solle ihr Leben nicht noch mehr ruinieren, als er es schon getan habe, schrie sie. Während die Mutter die beiden zu trennen versuchte, machte der Vater einen Satz zur Seite und riss zwei Flaschen aus dem Schrank unter der Spüle.
»Jetzt gehst du nach oben und scheuerst deine Wände mit Lauge ab, wie du es selbst vorgeschlagen hast, du Teufel«, fauchte er. Er war aschfahl. »Und wenn du nicht tust, was ich dir sage, dann sorge ich dafür, dass du dich die nächsten Tage nicht mehr von deinem Lager erheben kannst. Verstanden?«
Dann spuckte ihm der Vater ins Gesicht, drückte ihm die eine Flasche in die Hand und betrachtete höhnisch den Speichel, der ihm vom Kinn tropfte.
Da drehte er den Verschluss von der Flasche und ließ den ätzenden Inhalt auf den Küchenfußboden rinnen.
»Du Satansbraten, was tust du da!«, schrie sein Vater, griff nach der Flasche und wollte sie ihm aus der Hand winden. Dabei spritzte die ätzende Flüssigkeit im hohen Bogen durch die Küche.
Das Brüllen des Vaters war tief und markerschütternd – aber nichts gegen Evas Schrei.
Sie zitterte am ganzen Körper und hielt die Hände vors Gesicht, als wagte sie nicht, es anzufassen. In diesen Sekunden drang die alkalische Lösung in ihre Augen und nahm ihr für immer den Blick auf die Welt.
Und während die Küche erfüllt war vom Weinen der Mutter, dem Schreien der Schwester und seinem eigenen Entsetzen über das, was er angerichtet hatte, stand sein Vater völlig reglos da und starrte auf seine Hände. Deren Haut schlug Blasen von dem ätzenden Mittel, und sein Gesicht wurde erst rot, dann blau.
Plötzlich riss er die Augen auf und griff sich an die Brust, knickte vornüber und rang mit ungläubiger Miene nach Atem. Und als er schließlich zu Boden stürzte, war das Leben, wie sie es kannten, vorbei.
»Herr Jesus Christus, allmächtiger Vater im Himmel, ich ruhe in deiner Hand«, röchelte der Vater mit seiner letzten Luft, und dann war es vorbei. Die Hände lagen wie ein Kreuz auf der Brust, und er lächelte.
Einen Augenblick stand er ganz still, sah das Lächeln auf den erstarrten Gesichtszügen seines Vaters.
Die Rachegelüste, die ihn in den letzten Jahren aufrechterhalten hatten, entbehrten plötzlich ihrer Grundlage. Mit Gott und einem Lächeln auf den Lippen war sein Vater an einem Herzanfall gestorben.
Das war nicht das, wovon er geträumt hatte.
Nur fünf Stunden
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