Erlösung
sich mit der Polizei oder der Gemeinde in Verbindunggesetzt oder versuche auf eigene Faust, ihn zu finden. Die Familie ist eine Million Kronen ärmer, aber die restliche Kinderschar ist am Leben. Und die Familie verschweigt das Unglück, das sie getroffen hat. Sie schweigt, damit der Mörder mit seinen Drohungen nicht ernst macht. Sie schweigt, um wieder ein einigermaßen normales Leben führen zu können.«
»Und das verschwundene Kind?«, rief Bente Hansen dazwischen. »Wie steht’s mit der Umgebung? Es muss doch Menschen gegeben haben, denen auffiel, dass plötzlich ein Kind fehlte?«
»Ja, das sollte man meinen. Aber in einer so engen, aufeinander bezogenen Gemeinschaft reagieren nicht viele, wenn man verkündet, man habe das Kind aus religiösen Gründen verstoßen. Auch wenn so eine Entscheidung an sich von einem besonderen Rat gemeinsam getroffen wird. Und in gewissen religiösen Sekten wirkt genau diese Erklärung von der Verstoßung glaubwürdig. Tatsächlich ist es in manchen Sekten nicht gestattet, Kontakt zu einem Verstoßenen zu haben, und deshalb versuchen es die Mitglieder auch gar nicht erst. Die Gemeinde ist in dieser Frage jederzeit solidarisch. Nach dem Mord erklärten die Eltern, sie hätten ihren Sohn Poul verstoßen, hätten ihn fortgeschickt, und zwar richtig weit weg, um nicht mehr an ihn erinnert zu werden. Aus den Augen, aus dem Sinn. Da verstummten auch die Fragen.«
»Ja, aber außerhalb der Gemeinde? Da muss es doch auch welche gegeben haben.«
»Ja, sollte man annehmen. Aber in den meisten Fällen gibt es keinerlei Kontakt zu Menschen außerhalb der Gemeinde. Das ist doch gerade das Teuflische daran, dass der Mörder solche Opfer ausgewählt hat. Eigentlich hat sich nur Pouls Studienberater bei den Eltern nach ihm erkundigt, und das hat zu nichts geführt. Wenn ein Student nicht will, kann man ihn ja nicht an seinen Studienplatz zwingen, oder?«
An der Stelle hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Nun hatten es alle begriffen.
»Ja, wir wissen genau, was ihr denkt, und das denken wir auch.« Der Stellvertreter Lars Bjørn sah in die Runde. Wie immer versuchte er, wichtiger auszusehen, als er war. »Wenn dieses schwere Verbrechen nie zur Anzeige gekommen ist und womöglich bewusst in einem so geschlossenen Milieu verübt wurde, dann ist es durchaus möglich, dass es sich wiederholt hat.«
»Das ist ja krank!«, kam es von einem der Neuen.
»Ja, willkommen im Polizeipräsidium.« Das war Vestervig so rausgerutscht, und er bereute es im selben Moment, als Jacobsen ihm einen Blick zuwarf.
»Ich darf betonen, dass wir bislang noch keine drastischen Schlüsse ziehen dürfen«, sagte der Chef. »Aber solange wir nicht mehr wissen, gilt: Kein Wort der Presse gegenüber, ist das klar?«
Alle nickten, besonders Assad.
»Das, was seither in der Familie passiert ist, zeigt ganz klar, wie der Mörder sie in der Hand hatte«, sagte Marcus Jacobsen. »Willst du, Carl?«
»Ja. Tryggve Holt zufolge zog die Familie schon eine Woche nach seiner Freilassung nach Schweden um, nach Lund. Damals bekamen alle Familienmitglieder den Befehl, Poul nie mehr zu erwähnen.«
»Das muss hart gewesen sein für den kleinen Bruder«, warf Bente Hansen ein.
Carl sah Tryggves Gesicht vor sich. Das war es unter Garantie gewesen.
»Wie paranoid die Drohung des Mörders die Familie gemacht hat, zeigte sich jedes Mal, wenn sie jemanden Dänisch sprechen hörten. Deshalb zogen sie von Schonen weiter nach Nordosten, nach Blekinge, und auch dort sind sie noch zweimal umgezogen, bis sie an ihrem jetzigen Wohnort in Hallabrozur Ruhe kamen. Aber der Vater hat alle Familienmitglieder strengstens instruiert, niemals jemanden ins Haus zu lassen, der dänisch spricht, und sich niemals auf Menschen außerhalb der Gemeinde einzulassen.«
»Und dagegen protestierte Tryggve?«, fragte Bente Hansen.
»Ja, und das tat er aus zwei Gründen: Erstens wollte er sich nicht verbieten lassen, über Poul zu sprechen, den er sehr geliebt hat und von dem er auf irgendeine abstruse Weise meint, er habe sein Leben für ihn geopfert. Und zweitens hatte er sich heftig in ein Mädchen verliebt, das nicht zu den Zeugen Jehovas gehört.«
»Und dann wurde er verstoßen«, ergänzte Lars Bjørn. Schließlich waren schon mehrere Sekunden vergangen, seit er seine eigene Stimme gehört hatte.
»Ja, Tryggve wurde verstoßen«, schloss sich Carl an. »Und das ist er nun seit vier Jahren. Er ist ein paar Kilometer weiter nach Süden
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