Erlösung
der Luft und sie landete wieder sicher auf dem Eis. – Knack – Ein schmaler Riss erstreckte sich blitzartig an der Stelle, wo sie aufgekommen war und er zog sich fast bis zum Ufer. Sie bemerkte von alledem nichts, ihre Augen waren geschlossen. Sie schien versunken in ihren eigenen fließenden Bewegungen. Und ich konnte es abstreiten, doch mir ging es ebenso. Ich wusste nicht, ob ich jemals etwas Vergleichbares gesehen hatte, aber sie war in jenem Moment für mich die Anmut in Person. Das Orchester verstummte für eine Sekunde, nur um dann kurz danach in einem fast schon ohrenbetäubenden Finale zu ertönen. Ein fulminantes Ende in einer Kür, die nur einen Zuschauer hatte. Das Mädchen drehte eine schnelle Pirouette, dann nahm sie erneut einen ausgedehnten Anlauf, bevor sie kraftvoll in die Höhe schnellte. Es waren fast zweieinhalb Umdrehungen, die sie schaffte und ich war mir sicher, dass sie diesen Sprung perfekt gestanden hätte, wenn das Eis unter ihr nicht gebrochen wäre. Die Melodie war abrupt verstummt und die Frau war im See verschwunden. Der Zauber dieses Augenblicks war mit einem Mal dahin.
„Doch nicht so vollkommen“, zischte ich zu mir selbst. Die winterliche Stille wurde jäh unterbrochen, als ich ein Hämmern hörte. Der erste Schock war wohl überwunden. Jetzt schlugen kleine Fäuste von unten gegen die unüberwindbare Eisdecke, in der Hoffnung einen Ausweg aus dieser kalten Falle zu finden, bevor ihre Glieder den Dienst versagen würden oder ihr allmählich der Sauerstoff ausging, was zweifelsohne bei dieser Anstrengung rasch passieren würde. Ich wusste, wie sie sich fühlte, denn mich hatte vor langer Zeit das gleiche Schicksal ereilt. Meine Orientierung hatte ich damals als erstes verloren. Die Strömung hatte mich unbarmherzig mit sich gerissen, weiter fort vom rettenden Loch, das an die Oberfläche führte. Das Schlimmste war jedoch die beißende Kälte, die ich kaum ignorieren konnte, weil sie meinen Verstand zu vereisen drohte. Ich war dem Gefängnis unter Wasser schlussendlich entkommen, aber ich hatte auch Glück gehabt. Mein Bruder war ohne zu zögern zu mir gesprungen und hatte mich heldenhaft aus dem Wasser gefischt. Als ich an Christopher dachte, huschte zwangsläufig ein Lächeln über meine Lippen. Er war auch mein bester Freund gewesen…
Erneute Schläge gegen die unnachgiebige Eisdecke holten mich in die Gegenwart zurück. Das Klopfen klang zwar verzweifelter, aber auch schwächer als zuvor. Sie würde nicht mehr allzu lange am Leben bleiben, soviel war gewiss. Ich drehte mich auf dem Absatz um, bereit den Heimweg anzutreten; merkwürdigerweise verweigerten mir meine Beine jedoch den Dienst. Der letzte Rest meines verkümmerten Pflichtbewusstseins befahl mir, mich gefälligst um das Mädchen zu kümmern. Ein frustriertes Knurren entrann meiner Kehle, als ich schon zum See rannte. Dann würde ich sie retten, aber nur um ihr Blut zu kosten. Wenn sie ohne mein Einschreiten sterben würde, dann konnte man auch nicht von einem Regelbruch sprechen. Toll, jetzt hatte ich bereits solche Gewissensbisse wie Nicholas. Ich erreichte kopfschüttelnd das Eis und die linienförmigen Risse erinnerten mich sofort daran, überlegt vorzugehen. Vorsichtig lief ich über die rutschige Fläche und ich musste mich konzentrieren, damit ich nicht die Kontrolle über meine Bewegungen verlor, denn es war glatter als erwartet. Je näher ich der Stelle kam, an dem die Frau eingebrochen war desto dünner wurde die Oberfläche. Es war letztendlich wohl unausweichlich, dass ich auch nass werden würde. Konnte diese Situation noch nervtötender werden? Ich dachte über die Antwort nicht nach, stattdessen sprang ich das letzte Stück einfach. Trotz meiner gekonnten Landung direkt neben dem Riss, brach noch mehr Eis weg. Aber ich konnte mich an den Seiten festkrallen, so rutschte ich wenigstens nicht weiter ab. Dann war es wieder still. Ich lauschte, konnte jedoch nichts hören. Verflucht! War ich jetzt etwa zu spät? Das Blut eines toten Menschen war eigentlich wertlos. Eine kurze Bewegung unterm Eis ließ meine Sorge sofort verschwinden. Ohne weitere wertvolle Zeit zu vergeuden, tauchte ich ins Wasser ein. Die Temperatur machte mir nichts aus, weil sie meiner eigenen recht nahe kam und meine Augen funktionierten auch hier präzise. Das geschwächte Mädchen trieb nur wenige Meter von mir entfernt. Ihre Kleidung war mittlerweile so voll gesogen, dass sie sie immer bewegungsunfähiger machte und der
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