Erlosung
jemand auf den Beton geworfen hatte, gefolgt von einer ganzen Reihe knallender Kracher, und erst, als
sie einen Stoà an der rechten Hüfte verspürte, begriff sie, dass es sich um Schüsse handelte. Es war nur ein StoÃ, kein Schmerz, nicht heftiger, als hätte jemand sie versehentlich mit dem Ellbogen angerempelt. Sie sah an sich hinunter und entdeckte einen kleinen Riss in der Jacke. Noch immer verspürte sie keinen Schmerz, nur ein sengendes, taubes Gefühl da, wo sie getroffen worden war.
Hinter ihr erklang eine Sirene. Blaue Blitze huschten über den Beton. Aus Richtung der Flughafenambulanz näherte sich ein weiÃer Citroën ID 19 Break mit dem blauen Kreuz des Krankenwagens über der Windschutzscheibe. Der Wagen fuhr langsam, als wäre der Fahrer unsicher. Die Scheibenwischer schlugen hin und her, obwohl es nicht regnete. Die Scheinwerfer wechselten von Fernlicht zu Abblendlicht und wieder zurück, bevor sie ganz erloschen. Dann gingen sie doch wieder an, begleitet von lautem Hupen, als der Fahrer krachend den Gang wechselte.
Metall kreischte, der Fahrer schaltete runter und wieder rauf, und diesmal gehorchte das Getriebe. Der Citroën machte einen Satz, beschleunigte und wurde immer schneller. Annika streckte den Kopf aus dem Fenster und winkte mit einer Hand, während sie mit der anderen weiter das Lenkrad hielt. »Spring rein, Bambi!«, rief Annika.
Geduckt rannte Ella dem Krankenwagen entgegen. Jetzt spürte sie den Schmerz, ein ReiÃen und etwas Warmes, das ihre Hüfte hinunterrann. Als sie auf gleicher Höhe waren, bremste Annika so heftig, dass die Reifen rauchten. Ella sprang auf den Beifahrersitz, und sofort trat Annika das Gaspedal wieder voll durch. Ella wurde zurückgeschleudert. Annika riss das Lenkrad herum und steuerte den Citroën über die Piste, ohne vom Gas zu gehen. Ihre Augen funkelten. »Seit Jahren bin ich nicht mehr gefahren!«, rief sie. »Ich habe ganz vergessen, wie das ist! Mich kriegt keiner mehr vom Steuer weg, und wenn ich halb Frankreich ausrotte!«
Mit leicht vorgeneigtem Kopf und halb offenem Mund raste sie auf das Loch im Zaun zu. Dabei drückte sie ununterbrochen auf die Hupe, als verursachte die Sirene unter der Motorhaube nicht Lärm genug. »Achtung! Festhalten!« An das Lenkrad geklammert, jagte sie den Rettungswagen auf das Loch zu, das der Geländewagen gerissen hatte. Das Maschengeflecht flog ihm im Licht der Scheinwerferkegel entgegen. Hell schimmernde Drahtflügel schlugen gegen die Karosserie und die Fenster, aber der aufheulende Motor und die Sirene übertönten jedes andere Geräusch. Dann öffnete sich die Ebene vor den Scheinwerfern, deren Licht sich im Nichts zu verlieren schien. Einen Herzschlag lang und noch einen und auch den nächsten starrte Ella in dieses Nichts, während ein brennender Schmerz ihre Hüfte durchzuckte.
Abrupt trat Annika auf die Bremse und würgte den Motor ab. Mit einem Ruck blieb der Citroën stehen, nur ein paar Meter von dem Renault Pick-up entfernt. »Na, wie war ich?«, fragte sie mit erhitztem Gesicht. »Auf der Autobahn darfst du wieder. AuÃerdem muss ich dir noch unseren Patienten vorstellen.«
Ella hörte ein Geräusch hinter sich und drehte sich um. Erst jetzt bemerkte sie die Gestalt auf der Trage im rückwärtigen Teil des Ambulanzwagens. Die Gestalt richtete sich auf, und als Annika kurz die Innenbeleuchtung einschaltete, erkannte Ella den Mann mit dem Lederhut, dem Hippie-Schnurrbart und dem Union Jack auf dem Parka. Der Mann nahm den Hut ab und sagte: »Ich bin Raymond Lazare. Sie bluten ja!«
48
Nach einer Viertelstunde nahm Ella die Abfahrt Le Mans-Paris, und sobald sie von der Peripherique auf die E 50 gebogen war, fuhr sie so langsam, dass alle anderen Fahrzeuge sie überholen mussten. Die Lichter von Rennes blieben eine Zeit lang im Rückspiegel des Pick-up, aber es dauerte nicht lang, bis dort nur noch der Nachthimmel etwas heller schimmerte, als wäre jenseits des Horizonts ein Raumschiff von einem anderen Planeten gelandet.
Es war kurz vor 22.30 Uhr. Ella stellte das Autoradio an, und als die Musik kaum zwei Minuten später von einem aufgeregt klingenden Sprecher mit einer Sondermeldung unterbrochen wurde, vergaà sie die pochenden Schmerzen in ihrer Hüfte. »Bonsoir, mesdames, messieurs« , sagte der Sprecher, » ce soir sur lâaéroport St. Jacques à Rennes
Weitere Kostenlose Bücher