Erlosung
Rollfeldbeleuchtung.
Die Tür wurde zur Seite geschoben, und eine Flugbegleiterin streckte den Kopf heraus. An den abgerundeten Fenstern zeigten sich die Köpfe der Passagiere.
Annika war leicht schwindlig, und es schien, als wäre der Boden der Halle nicht ganz gerade. Sie rang um Luft. Der Druck hatte ihre Lunge erfasst und presste nun auch ihren Schädel zusammen, schien ihn zu verformen. Sie schüttelte sich wie ein nasser Hund, um den Druck loszuwerden. Die Tabletten wirkten nicht; warum wirkten sie ausgerechnet jetzt nicht?
Ella starrte auf die Luke, wartete auf den Mann mit dem roten Schal und der roten Baseballkappe. Die Wartungsfahrzeuge und der Gepäckwagen fuhren in einem groÃen Bogen um den geparkten Jet herum.
Erneut wählte Ella Lazares Nummer. Sie stellte sich vor, wie sein Handy an seiner Brust summte oder vibrierte, da brach das Freizeichen ab, und die Frauenstimme meldete sich: »The person youâve been calling is temporarily â «
»ScheiÃe!« Ella stieà das Handy in die Jackentasche zurück. »Anni, wenn ich ihn nicht ans Handy kriege, muss ich raus aufs Rollfeld, um ihn zu warnen, bevor er das Gebäude betritt.«
»Ja«, sagte Annika, »natürlich«, obwohl sie nichts verstanden hatte. Sie hörte Ella reden, und in dem dichten rosaroten Nebel sah sie die Worte sogar aus ihrem Mund kommen, verschwommen, unverständlich: Sie flatterten in dem flirrenden Lichtschein, bis sie zu glühen schienen. Dann flogen sie zu all den gefährlichen Männern, die in der Halle standen und gingen, und dabei flackerten sie wie Dutzende kleiner roter Flämmchen, und im nächsten Moment flackerten auch die Männer, zusammengesetzt aus tausend funkelnden Punkten und Pixeln.
»Ist dir nicht gut?«, fragte Ella noch einmal.
»Nein, ich glaube, ich muss mich hinlegen«, antwortete Annika und ging davon, ohne sich umzusehen. Sie steuerte den
Gang zur Toilette an, lief mitten in den nächsten Wallfahrerpulk hinein, wo Ella sie aus den Augen verlor.
Die Wallfahrer strömten dem Ausgang zu, während eine andere Reisegruppe gerade durch den Eingang tröpfelte. Ein Geistlicher und zwei Flugbegleiterinnen eskortierten die Gruppe zu einer links neben dem Ausgang gelegenen Ecke, an der ein Schild mit der Aufschrift Sacred Tours aufgestellt worden war. Einer der Männer stimmte ein Lied an: Yes, Jesus loves me, the Bible told me so . Müde fielen die anderen ein, schienen aber mit jeder Silbe wieder aufzuleben und mit fröhlichem Mut in die Zukunft zu schreiten.
Der Mann in dem grauen Gabardineanzug lenkte Ella ab. Er bewegte sich abrupt, wandte kurz den Kopf. Sie konnte ihn nur im Profil sehen, aber sie erkannte ihn sofort wieder. Er war auch auf Mont Saint-Michel gewesen, einer der Männer auf der Grande Rue. Sein Gesicht hatte sie im Dunkeln kaum richtig gesehen, doch das tote Auge lieà keinen Zweifel zu: Wie gestern Abend blickte es sie mit einem fahlen, perlmuttartigen Schimmer an wie das einer gekochten Forelle.
Sie wandte rasch den Kopf, schaute wieder nach drauÃen aufs Rollfeld und gleichzeitig auf die in der Scheibe gespiegelte Halle. Die Wallfahrer bildeten einen Pulk, in dessen Mitte Annika verschwunden war. Auf dem Tower waren zwei weitere Männer in Position gegangen. Sie standen an der Fensterfront, kleine schwarze Silhouetten, und beobachteten die Luken des geparkten Jets. Einer von ihnen sprach offenbar in ein Walkie-Talkie, der andere führte ein Fernglas an die Augen.
Was ist da los? , dachte Ella. Das Gefühl, in der Falle zu sitzen, wurde plötzlich übermächtig. Es ist alles umsonst, dachte sie, du wirst hier nicht mit heiler Haut herauskommen, du nicht und Anni auch nicht.
Aber dann wusste sie plötzlich, dass es gar nicht mehr um sie ging; es ging auch nicht mehr nur um Anni oder Mado, nicht
einmal um Lazare. Es ging schon immer um einen höheren Einsatz. Sie hatte geglaubt, sie könnte entscheiden, aber die Entscheidungen waren ihr längst aus der Hand genommen worden.
Und trotzdem musste sie es versuchen. Sie bewegte sich zu der Passagierschleuse, dorthin, wo der Mann mit dem wie blind wirkenden Forellenauge gestanden hatte, und glitt langsam an der Glasfront entlang zu der hydraulischen Tür. »Pardon, Madame, excusez-moi!«, rief ein Mann in der Uniform der Flughafensicherheit. »Madame, où vous allez?! Madame â Madame â Câest interdit!
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