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Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
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    Ella ging weiter, als hätte sie nicht verstanden, den Kopf leicht gesenkt. Nicht stehenbleiben, sagte sie sich; nichts Böses hören, nichts Böses sehen, nichts Böses sprechen. Sie erreichte die Schleuse. Noch immer verließen die Passagiere das Flugzeug nicht, obwohl die Gangway bereits angedockt hatte.
    Â» Madame? Pardon, Madame! Can you understand me, madam? Stop! «, rief der Sicherheitsmann. Mit ein paar schnellen Schritten war er bei Ella und ergriff ihren Arm, um sie festzuhalten. »Madame?! «
    Plötzlich entstand Unruhe in der Halle hinter ihnen. Die Pilger wichen auseinander und gaben den Blick auf Annika frei. Ihre Schultern schienen sich zu heben und zu senken, und ein Schütteln durchlief ihren ganzen Körper. Ihr Kopf ruckte nach hinten, das Haar flog ihr um ihren Hals, und als der Kopf wieder nach vorn zuckte, war ihr Gesicht so fremd wie das einer Wildkatze. Ihre Sehnen waren angespannt und hart. Dünner Schaum trat ihr auf die Lippen, während sie vor sich ins Leere starrte, ganz auf eine ungeheure Kraftanstrengung konzentriert – die Anstrengung, den Boden festzuhalten, auf dem sie stand.
    Ella riss sich los. »Anni!«
    Annika hörte ihren Namen, aber sie war zu glücklich, um zu
schauen, wer nach ihr rief. Sie stand inmitten der um sie wirbelnden Pilger, und auf einmal wurde sie in einen grellen Blitz getaucht, der von nirgendwoher kam. Er war so hell, dass er sie blendete. Der Druck auf ihren Kopf und ihre Brust löste sich jäh in nichts auf, und ihrer Kehle entrang sich ein Schrei herrlicher Erleichterung, als würde ihre Lunge in Fetzen gerissen. Ihr Körper bäumte sich in einem Krampf auf, der sie von den Füßen zu reißen schien. Sie wurde gegen den Boden geschleudert und schlug mit dem Kopf auf den Marmor, und das Licht erlosch.
    Ella rannte. Sie rannte quer durch die Halle, und als sie Annika erreichte, durchsuchte sie hastig die Taschen der schwarzen Lederjacke nach ihren Medikamenten. Ein trockener, heißer Geruch stieg von Annika auf wie von Feuerstein in der Sonne. In der linken Jackentasche entdeckte Ella ein Plastikdöschen mit einem Antiepileptikum in Tablettenform und ein kleines Fläschchen mit einem Antikonvulsivum. Sie kauerte sich neben Annika, bettete ihren Kopf auf ihre Schenkel und schob zwei Finger in Annis Mund, um die Zunge aus dem Rachen zu ziehen. Sie schraubte das Fläschchen auf, hielt den Mund mit der einen Hand geöffnet und träufelte mit der anderen einige Tropfen in Annis rechte Wangentasche. Dann wischte sie ihr das Kinn ab.
    Die Pilger standen schweigend um sie herum. »Sanitäter!«, rief Ella. » Call a doctor, please! Un médecin! «
    Sie hörte, wie die Triebwerke des geparkten Jets ausgeschaltet wurden und versuchte, zwischen den Pilgern hindurch einen Blick aufs Rollfeld zu erhaschen. Sie sah wie die ersten Passagiere das Flugzeug verließen und die Gangway herunterkamen, wo der Shuttlebus auf sie wartete. Zwei Männer in dunklen Anzügen mit Aktenkoffern machten den Anfang, der erste trug einen Trenchcoat über dem Arm und presste bereits sein Handy gegen das Ohr.
    Annikas Lider flatterten, ihr Kopf bewegte sich auf Ellas
Schenkeln. Sie öffnete die Augen. Ihr Gesicht hatte einen erschöpften, müden Ausdruck, als wäre sie sehr weit weg gewesen, ohne zu wissen, wie sie dorthin und wieder zurückgekommen war. »Wo bin ich?«, fragte sie.
    Zwei Sanitäter mit einer Trage standen plötzlich neben Ella. Sie stellten die Trage ab und fragten etwas auf Französisch, das sie nicht verstand. ȃpilepsie«, sagte sie aufs Geratewohl. »Elle est malade – «
    Â»Ah, je comprends« , sagte der Sanitäter.
    Annikas Blick wanderte von Ella zu dem jungen Mann. »Je suis fatigué«, murmelte sie.
    Â»Kann ich dich allein lassen?«, fragte Ella.
    Â»Natürlich«, flüsterte Annika, »hau schon ab.«
    Ella sprang auf und hastete zu der Personenschleuse zurück, an der sie von dem Sicherheitsmann aufgehalten worden war. Gerade betrat ein Flughafenangestellter die Schleuse. Der Sicherheitsmann achtete jetzt nicht mehr auf Ella, sondern blickte neugierig zu Annika und den Sanitätern hinüber. Ella wartete, bis der Flughafenangestellte die Schleuse verlassen hatte, dann schlüpfte sie nach draußen aufs Rollfeld, bevor die Tür sich wieder schloss. Der Nachtwind war kühl und scharf.
    In kleinen

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