Erlosung
wieder verdrängte. »Können Sie sprechen?«
Die Frau sah zu ihr auf und öffnete die entstellten Lippen, aber sie brachte nur ein Röcheln zustande, denn auch der ganze Mund war voller Blut. Trotzdem versuchte sie weiter, ihr etwas zu sagen, jetzt mit den Augen. Ella kniete sich hin, neben den Oberkörper der Frau. Sie öffnete den Koffer, holte ein Paar sterile Handschuhe heraus und streifte sie über. Behutsam drehte sie den Kopf der Verletzten auf die Seite, damit sie nicht erstickte.
Sie muss Unmengen von Blut verloren haben. Ich weià nicht, wo ich anfangen soll. Wo soll ich bloà anfangen?
Sie legte die Taschenlampe auf den Boden, wo sie sacht hin und her rollte. Sie tastete über der Halsschlagader der Frau nach einem Puls, der so schwach war, dass sie ihn kaum fühlen konnte, aber schnell, rasend schnell. Sie beugte sich über den Mund der Frau, und da bemerkte sie hinter ihrem Kopf die groÃen, glitzernden Glasscherben in dem schwankenden Lichtkegel
und dazwischen seltsame, wimmelnde Bewegungen. Etwas zuckte, zappelte und hüpfte in der roten Nässe auf den Holzbohlen.
Fische.
Der ganze Boden war voll davon, kleine und groÃe Zierfische in schimmernden Farben, Rot, Türkis, Hellblau, Gelb, Farben wie tropische Sonnenuntergänge mit irisierenden Schuppen, die leuchteten, erloschen und wieder aufleuchteten. Zitternde Körper mit starren, glimmenden Augen und breiten, nach Sauerstoff schnappenden Mäulern.
Ella hörte ein Knistern im Ohrstöpsel. Doch ehe sie antworten konnte, vernahm sie noch etwas anderes, ein Geräusch, das nicht von der verletzten Frau und auch nicht von den Fischen herrührte. Es klang, wie wenn jemand, der lange still gestanden hatte, sein Gewicht von einem Fuà auf den anderen verlagerte.
Die Atmung der verletzten Frau beschleunigte sich, das Zittern ihrer Beine wurde stärker. Sie versuchte den Kopf zu heben, nackte Panik in den Augen. » ⦠est là « , flüsterte sie röchelnd, »⦠est là â¦Â«
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte Ella und beugte sich noch weiter vor, bis ihr Ohr fast die zerfetzten Lippen der Frau berührten.
»⦠ist noch da ⦠ist noch da â¦Â«
»Was?«, fragte Ella.
» ⦠ist noch da â¦Â«
Ella spürte, wie die Atmosphäre in dem Zimmer sich veränderte. Ein eiskalter Fleck bildete sich zwischen ihren Schulterblättern. Auf einmal hörte sie Laute, die ihr vorher nicht aufgefallen waren. Zu dem leisen Klatschen der erstickenden Fische in dem ausgelaufenen Wasser und dem winselnden, röchelnden Atmen der blutenden Frau gesellte sich das flüsternde Ablaufen der letzten Regentropfen aus der Rinne drauÃen vor den Fenstern,
der ferne Partylärm in einem der Hinterhöfe, das Rascheln der Plastikplanen an dem Gerüst, mit dem das Haus verkleidet war.
Aber das war nicht alles, es gab noch mehr, kein Geräusch, etwas , in einem der anderen Räume.
Wir sind nicht allein. Etwas ist in der Wohnung. Jemand.
Ella spürte das Kräftefeld eines menschlichen Wesens, das sich näherte. Gleichzeitig schälten sich mehr und mehr Einzelheiten aus der Dunkelheit: ein wuchtiger Schreibtisch, eine lederbezogene, dreiteilige Sitzgruppe, ein groÃer Flachbildfernseher an der Wand vor der Couch. Ein Kamin, ein deckenhohes Bücherregal, eine Stehlampe neben dem Gang, der tiefer in das offenbar weitläufige Penthouse führte. Die zersprungenen und verbogenen Trümmer eines Aquariums auf dem Boden vor dem Fenster. Halb zugezogene Vorhänge. Eine Stereoanlage auf einer Kommode unter dem Fernsehschirm. Bilder an den Wänden und noch mehr Bücher in Stapeln auf dem Boden. Das Fenster stand offen.
Plötzlich geschah etwas mit der Zeit, ein Teil von ihr verlangsamte sich, der Teil, in dem Ella sich befand. Während um sie herum alles weiter mit der üblichen Geschwindigkeit passierte, verlangsamte sich ihr eigenes Leben, ihr Herzschlag, ihr Atem, ihre Bewegungen, sogar ihre Gedanken.
Sie dachte, ich muss die Frau intubieren, wahrscheinlich ist die Sauerstoffsättigung schon unter 80, sie braucht Sauerstoff, sonst erstickt sie.
Sie dachte, ich muss sie ans EKG anschlieÃen, einen Zugang legen und ins Koma versetzen, ihr Kochsalz geben, sonst stirbt sie am Blutverlust.
Sie dachte, ich muss sie stabilisieren, ihren Kreislauf stützen, sonst erleidet sie einen Herzstillstand .
Sie dachte, ich muss ihr
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