Erlosung
dem der Wind ihre Witterung zugetragen hatte. Wie der Habicht.
Sein Gesicht blieb im Schatten, nur die Augen glänzten wie schwarzer Quartz, und noch etwas glänzte, etwas, das er in der Hand hielt. Ein Messer. Ella spürte, wie ihre Brust sich zusammenzog, alles in ihr erstarrte. Ihre Nerven, zu dünnen Saiten gespannt, rissen mit einem Schlag.
»Max«, schrie sie, »Max, Max, Max â «
»Wo bist du?« Das war er, das war Max, ächzend stemmte er die Tür zum Treppenhaus auf, Gott sei Dank, Gott sei Dank, und Ella rief: »Hier, hier, bin ich!« Sie suchte die Taschenlampe, packte sie und schwenkte sie hin und her, bevor sie den Strahl auf den Flur richtete, auf die Stelle, wo sie für Sekunden die Gestalt des Mannes gesehen hatte. Aber jetzt war die Stelle leer, und der Vorhang an dem Fenster zum Hinterhof schlug sacht hin und her. Das Gerüst vor dem Fenster erbebte unter hallenden Schritten, die schnell leiser wurden.
»Du meine Güte, was ist denn hier los«, sagte Max leise, während er sich humpelnd an der Korridorwand entlangtastete.
Ellas Stimme überschlug sich. »Die Patientin muss sofort ins Koma versetzt werden. Komm, hilf mir den Zugang zu legen,
wir müssen eine Vene finden, die noch nicht schlappgemacht hat. Such die Medis raus, Kochsalz, Morphium. Ich schlieÃe das EKG an. Sie braucht Sauerstoff, wir müssen intubieren. Sie war schon klinisch tot, ich habe sie zurückgeholt, aber wenn wir nicht â «
Max stützte sich mit einer Hand an der Wand ab. »Ach, du ScheiÃe â¦Â« Er balancierte auf dem unversehrten Bein, drehte den Kopf und begann zu würgen. Er schluckte und schluckte.
Von der Tür her fiel ein weiterer Lichtstrahl in die Wohnung. Eine Männerstimme rief: »Hallo? Waren Sie das im Treppenhaus? Ich habe Ihnen aufgemacht, zwoter Stock! Brauchen Sie Hilfe?«
»Ja.« Ella stand auf und warf Max einen Blick zu. »Ich hole die Trage. Ist die Feuerwehr da?«
Max sagte nichts.
»Max, ich geh runter. Bleib solange bei ihr.«
Max nickte. Er sagte noch immer nichts. Er starrte sie nur an, und als sie zur Tür kam, starrte der Nachbar aus dem zweiten Stock sie genauso an. Ihre Handschuhe waren voll Blut, und ihr hellblaues Hemd war schweiÃnass. »Laufen Sie runter zum Rettungswagen und holen Sie die Trage«, bat sie den Mann, der nicht mehr jung, aber kräftig wirkte. »Die Hecktür ist unverschlossen. Sie müssen mir helfen, die Verletzte nach unten zu tragen.«
»Was ist denn hier passiert?«, fragte der Mann. Er versuchte, an Ella vorbei in die Wohnung zu spähen. »Sieht das schnieke aus hier! Sind wohl feine Leute, die hier wohnen, was? Und uns im zweiten Stock drehn se den Strom ab und â «
»Jetzt gehen Sie schon die Trage holen!«, sagte Ella, und ihr selbst kam ihre Stimme gar nicht so laut vor, aber der Mann wich zurück, die Hände erhoben, als hätte sie ihn bedroht. »Ist ja gut, bin schon unten â¦Â«
Ella sah ihn noch die Treppe hinunterlaufen, dann gaben ihre Beine nach. Sie kippte gegen die Wand und rutschte daran zu Boden. Einen Moment lang saà sie nur da und zitterte, und ihre Knie schlugen gegeneinander wie Kastagnetten.
3
Zum ersten Mal bemerkte sie den grauen Audi Quattro im Rückspiegel, als sie von der YorckstraÃe auf den Mehringdamm bog, und etwas später wieder kurz vor der Brücke. Obwohl sie schnell fuhr, über hundert, folgte er ihr, ohne zurückzufallen. An der ersten roten Ampel hinter dem Kanal musste er aber stehen bleiben, und als sie ihn danach nicht mehr entdeckte, dachte sie, dass sie sich wahrscheinlich getäuscht hatte. Mit Blaulicht und Sirene steuerte sie den Sprinter über die WilhelmstraÃe, und die ganze Zeit betete sie, lass sie nicht sterben, bitte, lieber Gott, lass sie nicht sterben.
Sie nahm den Fuà kaum vom Gaspedal, obwohl die StraÃe hier noch nass war, und das Licht der Scheinwerfer auf dem glitzernden Asphalt sie blendete. Ihre Augen brannten; sie war gleichzeitig todmüde und hellwach.
Durch das Ãberwachungsfenster konnte sie Max und die Trage mit der verletzten Frau hinter sich unter Beobachtung halten. Sie blickte in den Innenspiegel und sah das Blut und manchmal Max, wenn er sich von seinem Platz auf der Seitenbank vorbeugte, um den Sauerstoff zu regulieren oder eine neue IV-Einheit anzuschlieÃen. Die Frau regte sich nicht. Sie hatten sie ins
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