Erlosung
lauschte, ob sie ein Geräusch hörte, ein Ãchzen vielleicht oder ein Humpeln, das Knirschen einer Krücke. Es gab nicht den leisesten Laut, nur den schwachen Verkehrslärm, der von der Spandauer Brücke heraufdrang. Sie lehnte sich gegen den Türknopf, aber das Schloss sprang nicht auf, natürlich
nicht, und sie hatte nichts dabei, um es zu öffnen, keine Ãle, Gels oder Skalpelle. Die Stille war unheimlich. Ella spürte, dass es eine andere Stille war als nur das Fehlen von Geräuschen .
Sie zog ihren Schlüsselbund heraus, ein unbedachter Reflex, denn sie hatte Max längst seinen Schlüssel zurückgegeben. An dem Bund befanden sich nur ihre eigenen, Haustür, Wohnungstür, Keller, Briefkasten. Der Briefkasten.
Sie machte auf dem Absatz kehrt und stürzte die Treppe wieder hinunter. Max war wieder Single, seit ihrer Trennung gab es niemand neuen, niemand, dem er seinen Zweitschlüssel gegeben hätte. Früher hat er immer einen Zweitschlüssel im Briefkasten verwahrt.
Die Briefkästen an der Kachelwand gleich hinter der Haustür waren aus Metall, uralte Blechkästen mit verbogenen, zerkratzten Türen, von denen die meisten keine Namensschilder trugen. Aber Ella wusste noch, welcher Max gehörte. Sie schob die rechte Hand so weit es ging in den Briefschlitz und riss und zerrte an der dünnen Klappe, bis das Schloss aufsprang. Ein paar Briefe und Reklamezettel fielen ihr entgegen. Der Boden des Blechkastens war leer, die Seiten auch, aber als sie die obere Innenseite abtastete, fand sie den Schlüssel, festgeklebt mit Leukoplast. Sie riss den Haftstreifen ab und stürmte die Treppe wieder hinauf, vier Stockwerke. Was ist, wenn der Schlüssel von innen steckt? Was machst du dann? Sie schob den Schlüsselbart ins Schloss. Kein Widerstand. Sie drehte den Schlüssel, sperrte die Tür auf und rief: »Max!?«
Auch die Wohnung war von Zwielicht erfüllt, Halbdunkel, keine Musik . Sie betätigte den Lichtschalter, eine Punktstrahlerleiste an der Decke tauchte den Gang in blendende Helligkeit. Ein Blinken auf dem Laminatboden erregte ihre Aufmerksamkeit, das erste Anzeichen, dass etwas nicht stimmte: Da lag der Wohnungsschlüssel wie achtlos weggeworfen dicht an der Wand unter der Garderobe.
Und immer noch: zu still, eine falsche Stille, unheimlich.
»Max, bist du da?!« Plötzlich klang ihre Stimme scharf, etwas von einem straff gespannten Draht schwang darin mit, es ist wie gestern Nacht â das Herz, das ihr bis in den Hals hinauf schlug; der Druck auf den Magen, als hätte sie ihren Gürtel zu eng geschnallt; die Hände, die plötzlich eiskalt waren. Nicht schon wieder, dachte sie, bitte nicht. Sie lieà die Tür offen und ging auf den Wohnraum am Ende des schmalen Korridors zu.
Diesmal gab es kein Stöhnen, kein leises Wimmern, das aus den offen stehenden Türen drang. Es gab den Eisschrank in der Küche, der mit einem leisen Klirren sein Kühlaggregat ausschaltete. Es gab das Tropfen eines Wasserhahns im Bad. Es gab das Kreischen der S-Bahn-Waggons mit ihren Eisenrädern auf den Schienen am Bahnhof Hackescher Markt.
Irgendwo musste ein Fenster offen stehen, obwohl die Hitze des Augustabends fast bewegungslos in der Wohnung stand. In der stickigen Luft hing ein leichter Fäulnisgeruch, etwas abgestanden Metallisches. Keine Musik. Max hörte immer Musik, sie lief sogar, wenn er schlief, ganz leise. Ich ertrage keine Stille, hatte er mal gesagt. Wahrscheinlich bin ich mir selbst unheimlich. Das war die andere Seite von Max, die sie in ihrer gemeinsamen Zeit mehr und mehr gestört hatte.
Sie ging an der Küche vorbei, warf einen Blick hinein, nichts, ging weiter. Sie war immer noch ruhig, aber nur nach auÃen hin, wie eine Mutter, die ihre Angst zu verbergen sucht, damit das Kind ihr nichts anmerkt. Nur dass das Kind in ihr war, eine kleinere Ausgabe von ihr selbst. Und dieses Kind schrie. Geh ins Schlafzimmer , schrie es, sieh endlich im Schlafzimmer nach, bestimmt liegt er da auf dem Bett und schläft.
Ella spähte durch die angelehnte Schlafzimmertür. Das Bett war ungemacht und leer. Das Bad . Das Bad hatte kein Fenster. Sie knipste das Licht an und sah hinein. Sie zog den Duschvorhang beiseite, die Plastikringe rasselten über die Haltestange.
Sie fand den tropfenden Wasserhahn, aber die Wanne war auch leer.
Das Wohnzimmer. Vielleicht ist er beim Fernsehen eingeschlafen, auf der
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