Erlosung
es Max war, egal, wie er aussah.
Sie zog die Beine an. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Waschmaschine neben der Spüle. Sie stand nicht auf, weil ihr dazu die Kraft fehlte. Sie betrachtete den toten Körper, der Max war und doch nicht Max. Da liegt mein bester Freund .
Im Wohnzimmer klingelte das Telefon. Ella hörte das Klingeln, aber sie hatte nicht die Kraft, um aufzustehen, und lieà es klingeln. Nach einer Weile hörte es auf. Ella fragte sich nicht, was Max geschehen war; sie wusste es.
Wir haben schon mit ihm gesprochen .
Sie dachte, wenn sie mit mir zuerst gesprochen hätten, läge ich jetzt so da, nur bei mir zu Hause. Sie wusste nicht, warum sie das dachte, aber sie wusste, dass es stimmte. Was sie nicht wusste, war: warum? Sie versuchte sich an die Fragen des Mannes am Telefon zu erinnern, und die meisten fielen ihr wieder ein, nur dass sie keine Antwort auf ihre eigene Frage ergaben. Warum? Warum Max, warum ich, was haben wir getan?
Irgendwann war ihre Kraft wieder da, und sie stand auf. Sie ging zur Wohnungstür und schloss sie, dann kehrte sie zu Max zurück. Sie setzte sich auf einen der beiden Stühle am Küchentisch. DrauÃen war es inzwischen Nacht geworden, und sie
konnte den Fernsehturm mit seinen roten und weiÃen Lichtern auf der anderen Seite der Bahngleise sehen und daneben einen schäbigen Plattenbau, dessen Fenster ebenfalls erleuchtet waren. Früher hatten sie manchmal nachts stundenlang telefoniert, und dabei hatte Max auf die Lichter des Turms geschaut und sie, vom Balkon ihrer Wohnung aus, über die Dächer von Schöneberg auf die roten Lampen oben am Stahlkranz des Gasometers. Guter Max, was haben sie mit dir gemacht?Was wollten sie von dir wissen, das du ihnen nicht sagen konntest?
Und warum hatten sie das Messer zurückgelassen? Wonach sollte es aussehen?
Ãberall entdeckte Ella die letzten Spuren eines jäh beendeten Lebens â eine aufgeschlagene Zeitung, ungespültes Geschirr, eine halb volle Wodkaflasche. Die Stille wurde dichter.
Sie saà da und sah zu ihm hinunter, und nach einer Weile wusste sie, was sie fühlte: Es war reine Trauer, reiner Schmerz, der bloà nicht körperlich wehtat. Sie kam sich fast schwerelos vor, wie sie dasaà und wartete; schwerelos in einem schwarzen All aus Trauer.
Das Telefon klingelte wieder. Sie stand auf und ging ins Wohnzimmer, in das vom Hochbahnhof gegenüber etwas Helligkeit hereinfiel. Die erleuchteten Fenster eines über die Brücke fahrenden ICE warfen ihren Widerschein auf die Wand; kleine, schräge Lichtvierecke glitten über die Bilder und die Möbel. Das Telefon hörte nicht auf zu klingeln.
Geh nicht dran, heb nicht ab. Warte, bis es aufhört und ruf dann die Polizei an, die richtige.
Sie stand neben dem Apparat und wartete, und endlich hörte es auf zu klingeln. Sie holte ihr Handy aus der Jackentasche und wählte den Notruf, und als am anderen Ende abgehoben wurde, sagte sie: »Mein Name ist Ella Bach. Bitte verbinden Sie mich mit der Polizei. Ich möchte einen Mord melden.«
»Von wo rufen Sie an?«, fragte die Frau am anderen Ende.
»SchubertstraÃe 3.«
Während sie verbunden wurde, fragte sie sich, ob sie das Richtige tat, aber sie wusste nicht, was sie sonst hätte tun sollen, und deswegen war es wohl richtig. Sie fühlte sich noch immer schwerelos und leer. Dann sagte eine andere Frauenstimme: »Polizeidirektion 3, Referat Verbrechensbekämpfung.« Ella wiederholte ihre Meldung und die Adresse. Dann nannte sie den Namen des Toten, und die Stimme sagte: »Bitte, bleiben Sie, wo Sie sind. Wir schicken sofort einen Streifenwagen!«
Gerade als die Stimme das sagte, begann das Telefon neben Ella erneut zu klingeln. Plötzlich begriff sie, dass der Anruf ihr galt. Sie hob ab, ohne sich zu melden. »Doktor Bach?«, fragte ein Mann, und es war derselbe Mann, mit dem sie erst vorhin von der Charité aus telefoniert hatte. »Es gibt noch einen Ausweg für Sie, Doktor Bach«, sagte er. »Sie müssen nicht so enden wie Ihr Freund. Reden Sie mit uns, nicht mit der Polizei. Wenn Sie mit der Polizei reden, lassen Sie uns keine Wahl!«
Sie wissen, wo du bist. Woher wissen sie, dass du bei Max bist?
»Kennen Sie das Märchen vom Hasen und dem Igel?«, fragte der Mann am anderen Ende der Leitung. »Geben Sie sich keine Mühe, zu rennen. Wir sind immer schon da. Und wenn wir nicht
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