Erlosung
Couch.
Der Fernseher war aus. Das kleine Wohnzimmer lag im Schatten einer halb heruntergelassenen Jalousie, durch die noch etwas Helligkeit hereinfiel, das letzte Licht des Tages. Vor dem Fenster führte die Hochbahn vorbei, über die Spandauer Brücke auf der anderen Seite der StraÃe. Dahinter ragte der Fernsehturm in den Abendhimmel; rote und weiÃe Lämpchen glommen an seiner silbernen Silhouette vor einem fingernagelgroÃen Halbmond.
Niemand lag auf der Couch, niemand saà im Sessel. Aber auf dem Boden lag eine herrenlose Krücke. »Max?! Max â¦Â« Wieso liegt die Krücke da? Wo kann er hin sein ohne die Krücke? Plötzlich bemerkte sie, dass der Teppich verrutscht war und Falten geworfen hatte. Sie entdeckte Kratzspuren an den weià getünchten Wänden.
Das Geräusch hinter ihr war nicht sehr laut, doch es zerriss die Stille so abrupt, dass sie herumfuhr, als hätte ihr jemand einen Schlag versetzt. Sie hatte nur einen kurzen Blick in die Küche geworfen, und sie wusste sofort, dass es dort hergekommen war, das Rascheln und Scheppern hinter der Tür . Sie drehte sich um und ging langsam zurück, diesmal ohne einen Namen zu rufen. Ihr Mund schmerzte vor Anspannung, der Puls hämmerte im Gaumen.
Sie stieà die Küchentür ganz auf. Knipste das Licht an. Entdeckte den Ursprung des Geräuschs â eine Mülltüte neben der Tür war umgefallen, raschelndes, rotes Plastik, und ein Teil des Inhalts hatte sich über den Linoleumboden ergossen, vor allem Joghurtbecher, Erdbeer, Blaubeer, Kirsch, ihre Lieblingssorten.
Die Einkaufstüte war nicht das einzige Rote auf dem ockerfarbenen Fliesenimitat, auch nicht die winzigen Spritzer von
Kirsch- und Erdbeerjoghurt. Es begann unter dem Tisch: dunkelrote Flecken; ein gestocktes, fast braunes Rinnsal, dunkel an den Rändern, heller und glänzend in der Mitte.
Er lag auf dem Bauch, und es sah aus, als schliefe er. Das Blut schien auf ihn zugekrochen zu sein, dann um ihn herum, ganz vorsichtig. Es war nicht von ihm, nein , es hatte seine Nähe gesucht. Er trug nur den Verband am linken Knöchel und die Shorts, in denen er immer schlief. Seine Haut war sehr blass bis auf ein paar blaue Flecken zwischen den Schultern. Die Haare in seinem Nacken waren schweiÃverklebt, obwohl er nun nicht mehr schwitzte. Sein Gesicht war von Ella weg und der Wand zugekehrt, und seine Hände lagen in Höhe des Geschlechts unter seinem Bauch begraben.
»Max«, flüsterte sie. Sie nahm an, dass sie geflüstert hatte, selbst wenn es in der winzigen Küche wie ein Schrei nachhallte. Sie wartete darauf, dass er den Kopf hob und aufstand, vielleicht mit einem benommenen, etwas verlegenen Lächeln; dass er sagte, Ach, du bist es, Bambi, schau nicht hin, ja? Ich bin bloà ausgerutscht, in der TomatensoÃe hier, wollte mir gerade Spaghetti machen. Sie näherte sich ihm zögernd, beugte sich über ihn und tastete automatisch nach seinem Puls, ohne ihn zu finden.
Kein Puls.
Die Haut über seiner Halsschlagader war kühl und trocken, und als sie ihn umdrehte, erwartete sie immer noch, dass er sie plötzlich anlächeln würde. Dann sah sie sein Gesicht, und einen Moment wurde ihr schwindlig vor Erleichterung. Das war nicht Max. Das war nicht sein Gesicht, denn da war kein Gesicht mehr zu erkennen. Von hinten hatte er ausgesehen wie Max, aber von vorn sah er nicht einmal aus wie ein Mensch. Das Messer lag neben seinem Kopf. Es war ein normales Fleischmesser mit einer zwanzig Zentimeter langen Klinge aus Solinger Stahl. An den Stellen, die nicht mit getrocknetem Blut bedeckt waren, reflektierte die Klinge das Licht der Deckenlampe.
Ella lieà den Kopf, den ganzen Körper sacht zurücksinken. Sie zitterte dabei so stark, dass der Schädel mehrfach gegen den Boden schlug. Sie stand auf und wandte sich ab und ging zur Spüle, und dort konnte sie sich gerade noch festhalten, bevor sie eine plötzliche Hitze hinter ihrer Stirn spürte. Als sie fiel, sah sie den Raum um die Lampe an der Decke rotieren wie um die Achse eines Kreisels. Sie lag eine Zeit lang auf dem Rücken, ohne die Augen zu schlieÃen. Ein schimmernder Film verwischte die Konturen der Gegenstände. Sie wollte nicht weinen. Sie wischte die Tränen weg, richtete sich auf, und da erkannte sie die Küche wieder und drehte sich um, und der verstümmelte Körper war noch immer da, und jetzt wusste sie, dass
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