Erntemord
real. Und ich bin hier.“
Der Friedhof löste sich in einem plötzlichen Nebel auf, und dann war sie plötzlich woanders. Sie stand in einem Feld. Endlose Reihen von Maishalmen dehnten sich vor ihr aus. Und da waren Vogelscheuchen. Sie wusste, dass sie die am nächsten Stehende erreichen und ansehen musste, und doch war es das Letzte, was sie tun wollte.
„Geh zu ihr“, flüsterte es in ihrem Ohr.
Denn auch er war da, in all seiner finsteren Bösartigkeit.
Doch sie konnte nicht hingehen, konnte nicht hinsehen. Sie wusste, was sie sehen würde, wenn sie hinging und den Blick hob: sich selbst. Sie würde sich aufgespießt inmitten des Maisfelds sehen, als Opfer seines Ichs und seiner Verrücktheit.
„Die Königin der Vogelscheuchen, die Königin des Blutes“, spottete er.
„Nein!“
Sie musste dagegen ankämpfen. Sie musste gegen ihn ankämpfen. Er war real, und zugleich war er es nicht. Um ihn zu besiegen, musste sie ihn sowohl in ihrem Geist als auch in der realen Welt bekämpfen.
„Nein“, rief sie erneut.
Sein Lachen wurde tiefer, und sie bemerkte, dass sie gegen ihren Willen immer weiter zur Vogelscheuche ging. In wenigen Momenten würde sie sehen …
Würde sie sich selbst sehen.
Mit leeren Augenhöhlen.
Aus denen das Blut tropfte.
Das die Erntegötter nährte.
15. KAPITEL
„Rowenna!“
Zuerst war Jeremy nur verwirrt, aber nicht besorgt gewesen. Sie hatte Albträume, die sie quälten? Das verstand er. Er hatte seine eigenen.
Als sie sich nur unruhig hin und her warf, weckte er sie nicht auf.
Doch dann wur de ihr Atem flach. Un ter den von lan gen Wimpern bedeckten zarten Lidern rollten ihre Augen wild hin und her.
„Rowenna?“ Er schüttelte sie sanft, doch sie reagierte nicht. Als er sie in seine Arme zog, fühlte sie sich leblos an wie eine Lumpenpuppe.
„Rowenna?“ Er legte sie zurück, setzte sich rittlings auf sie, nahm sie bei den Schultern und schüttelte sie fest.
Sie keuchte auf, riss die Augen auf und starrte ihn voller Panik an.
„Rowenna, ich bin’s. Du hattest einen Albtraum.“
Sie blinzelte, nickte und schloss dann einen Moment dieAugen. Ihr keuchender Atem beruhigte sich allmählich.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte er.
Sie versuchte zu lächeln, doch es blieb ein schwacher Versuch. „Mir geht’s gut. Das war ein fürchterlicher Albtraum.“
„Worum ging es?“, fragte er, während er sich wieder neben sie legte und sie in seine Arme nahm.
Sie schwieg einen Moment, und er war sicher, dass sie ihre Antwort sehr vorsichtig bedachte.
„Um all dies“, sagte sie leise.
„All dies bedeutet …? Die Leiche in dem Maisfeld? Marys Verschwinden?“, fragte er.
Sie nickte.
Er zog sie enger an sich.
„Nun, du weißt, dass du auch einige furchtbare Träume hast“, erklärte sie.
Er rutschte ein wenig zur Seite. „Ja, ich weiß. Wir alle haben Albträume. Jedes Kind hat irgendwann mal Angst vor dem Monster im Kleiderschrank.“
„Aber deine Träume handeln nicht von einem Monster im Kleiderschrank, oder?“, fragte sie ihn.
„Ich habe viele furchtbare Dinge gesehen“, erwiderte er achselzuckend.
Sie löste sich von ihm, stützte sich auf die Ellenbogen und blickte ihn forschend an. „Ich zeige dir meins, und du zeigst mir deins“, schlug sie spöttisch vor.
Er lächelte und begriff plötzlich, dass das Eingeständnis ihrer innersten Ängste für sie beide intimer war, als hier verschwitzt und nackt miteinander im Bett zu liegen.
„Du hast mir deins nicht wirklich erzählt“, erwiderte er.
„Ich habe dir doch gerade erzählt …“
„Wovon vermutlich jede Frau in der Gegend derzeit Albträume hat“, sagte er tonlos.
„Da bin ich anderer Ansicht“, sagte sie ernst. „Nicht jede Frau in der Gegend hat die Leiche als Vogelscheuche aufgespießt im Maisfeld gefunden.“
„Nein“, stimmte er zu. „Aber du sagst mir nicht alles. Du hattest schon vor der Leiche Albträume, oder?“
Sie atmete tief durch und sah ihn inmitten der nächtlichen Schatten aus großen Augen aufrichtig an. „Ich träume von den Maisfeldern, so wie ich sie sah, als ich jung war. Ich träume, wie sie sich endlos vor mir ausbreiten. Ich sehe die Vogelscheuchen, die Eric Rolfe gebastelt hat – sie waren grausig und so real. Ich verspreche dir, eines Tages wird er den Oscar für Special Effects gewinnen …“
„Wenn er nicht lebenslang ins Gefängnis kommt“, unterbrach Jeremy sie todernst.
Sie warf ihm einen warnenden Blick zu.
„Tut mir leid.
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