Erntemord
Bitte erzähl weiter“, drängte er sie.
„Da gibt es nicht viel mehr. Die Vogelscheuchen entpuppen sich plötzlich als reale Frauen. Tot. Einige von ihnen sehen mich an. Und ich höre jemanden reden. Er glaubt, dass er der Teufel ist – doch er ist real.“
Sie sprach die Worte fast leichthin aus, als ob die Träume keine Macht über sie hätten. Doch er wusste, dass sie ihm die Wahrheit sagte – und dass die Träume ihr weitaus mehr Angst machten, als sie zugeben wollte.
„Du weißt, dass du Opfer deiner eigenen Einbildungskraft bist“, sagte er sanft.
„Du bist dran“, erwiderte sie, ohne darauf einzugehen.
Er runzelte die Stirn. „Ich glaube, dass da mehr ist.“
Sie schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich habe dir so ziemlich alles gesagt. Das ist alles, woran ich mich erinnern kann“, sagte sie. „Außer dass ich manchmal auch den Friedhof in meinen Träumen sehe.“
„Weil Mary dort zuletzt gesehen wurde, das wird der Grund sein“, sagte Jeremy.
„Vermutlich.“ Er konnte den leisen Zweifel in ihrer Stimme hören, auch wenn sie ihn zu verbergen suchte.
Er zog die Brauen zusammen und verspürte plötzlich einen Schauder des Unbehagens. „Du solltest dich von dem Friedhof fernhalten.“
„Mach dir keine Sorgen um mich und den Friedhof. Ich kenne ihn seit Kindertagen. Ich könnte dir mit verbundenen Augen einen Lageplan zeichnen. Aber jetzt bist du dran“, drängte sie.
Er legte einen Arm unter seinen Kopf und starrte an die Decke. „Nach dem Tod meiner Eltern hatte ich furchtbare Albträume. Aidan half mir, sie zu überwinden. Er sagte mir immer, dass ich stark sein müsse für Zach. Er war derjenige, der uns zusammenhielt, sodass wir rasch erwachsen wurden. Die einzigen Filme, die mir jemals Angst machten, waren die Nightmare on Elm Street -Filme. Vermutlich, weil sie mir bewusst machten, wie hilflos wir sind, wenn wir schlafen.“
„Die Filme haben mir auch Angst eingejagt“, bestätigte sie. „Ich schätze, dass sie jedem Angst gemacht haben. Was mir keine Angst gemacht hat, waren all diese Filme über dämliche Teenager, die immer genau an jene Orte gingen, wo schon Dutzende anderer dämlicher Teenager ermordet worden waren. Ich würde niemals blöd genug sein, so etwas zu tun.“
Ein seltsamer Ausdruck trat in ihre Augen, und sie schaute rasch nach unten. Mit dem Finger fuhr sie über seine Brust und seinen Bauch, was ihn leicht erregte.
Will sie mich ablenken? fragte er sich. Oder sich selbst?
Offensichtlich weder noch, denn sie kam nach der kurzen Pause wieder zum Thema zurück.
„Du hattest letzte Nacht einen Albtraum“, sagte sie. „Hatte ich das?“
„Und du hast mittendrin mit jemandem gesprochen.“
„Mit wem?“
„Keine Ahnung. Ich schätze, du weißt es.“
Es ärgerte ihn, als er spürte, wie mit einem Mal die Röte in seine Wangen stieg. Immerhin war es dunkel, sodass sie es nicht bemerken würde.
Dennoch fühlte er sich merkwürdig, als er zugab: „Billy.“ „Billy?“, erwiderte sie fragend.
„Nun, du kennst meine Geschichte ja. Billy war der Junge, der noch lebte, als ich bei ihm ankam. Ich habe ihn an Land gebracht und Erste Hilfe geleistet. Er lebte. Sein Herz schlug, und er hatte Puls. Ich sprach mit ihm. Ich begleitete ihn im Krankenwagen. Ich könnte schwören, dass er mich sah, dass er mir dankte, dass er mich erkannte … im Krankenhaus wurde er dann für tot erklärt.“
„Das tut mir so leid“, sagte sie.
„Als Polizeitaucher siehst du furchtbare Dinge. Man fragt sich, wie ein Mensch einem anderen Menschen jemals etwas so Grausames antun kann. Aber mit diesen Kindern war es noch schlimmer … Sie hatten niemals eine Chance. Sie wandertenvon einer Missbrauchsfamilie in die nächste.“ Er schwieg einen Moment und spürte ihre Anteilnahme. „Herrje, laut den Psychologen wären sie nach allem, was sie durchgemacht hatten, selber zu Monstern herangewachsen.“
„Das glaubst du nicht wirklich.“
„Ich glaube, dass das geschehen kann. Ich glaube auch, dass wir alle für uns selbst verantwortlich sind. Egal was in unserer Jugend passiert ist, als Erwachsene müssen wir darüber hinwegkommen und zu den Menschen werden, die wir sein möchten.“
Sie legte den Kopf auf seine Brust. „Und was ist mit anderen?“, fragte sie. „Können wir sie zu den Menschen machen, die wir gerne hätten? Sollten wir sie verändern wollen, oder können wir akzeptieren, dass Menschen unterschiedlich sind?“
Er runzelte die Stirn und veränderte
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