Erntemord
seine Position. Er blickte auf sie hinunter, wie sie mit abgewandtem Gesicht auf seiner Brust lag und ihr seidenes schwarzes Haar sich auf eine Weise über ihn ergoss, von der er befürchtete, dass er sich zu sehr an sie gewöhnte. Ihre Stimme hatte sehnsüchtig und tief geklungen, und er wusste, was sie meinte. Sie meinte sie beide, denn sie war nicht dumm und wusste, dass er sie bei ihrer ersten Begegnung für eine Betrügerin oder aber eine höchst labile Person gehalten hatte.
Jeremy strich ihr über das Haar. „Ich glaube, wir wären verrückt, wenn wir nicht lernen, die Welt aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten“, sagte er und war überrascht von dem Beben in seiner Stimme.
Und noch überraschter, dass er seine Worte genau so meinte.
So lag er da, mit der Hand auf ihrem Haar und ihrer Wange auf seiner Brust. Er schloss die Augen und wusste, dass er nicht wieder schlafen würde. Doch er hoffte, dass sie es tat. Und dass ihr Schlaf ohne Träume sein würde.
Doch Träume oder keine Träume – er wäre da für sie.
War das Liebe? Konnte ein Mann von „Geh dieser Frau um jeden Preis aus dem Weg“ kommend eine sexuelle Anziehung und Faszination entwickeln und sich dann verlieben?
Wie zum Teufel konnte es einer von ihnen wissen, wo dies alles doch mit rasender Geschwindigkeit so intensiv geworden war?
Jeremy lag da, ruhte, dachte. Er schlief nicht. Sie tat es. Tief und offenbar traumlos.
Er drehte im Kopf alle Fakten hin und her. Auf dem Weg nach Boston würde er mit Joe sprechen. Auch wenn Joe ebenso wie Rowenna skeptisch sein würde.
Joe wollte nicht glauben, dass ein Einheimischer, jemand den er kannte und vielleicht sogar schon sein ganzes Leben kannte, ein kranker Mörder war.
Aber irgendjemand war genau das.
Jeremy glaubte nicht, dass er schlafen konnte, glaubtenicht, dass er es tat.
Doch dort in den verschwommenen Schatten sah er Billy. Billy, lebend und wohlauf, ein normaler Junge in Jeans und T-Shirt und mit leicht zerzausten Haaren. Er grinste, und Jeremy hatte den Eindruck, dass er Rowenna mochte, dass er sie guthieß. Er wollte leugnen, dass Billy dort war, redete sich ein, dass er Billy nur im Geiste vor sich sah, ihn sich einbildete. Dass, wenn er aufstand, hinüberging und versuchte, Billy anzufassen, er verschwinden würde.
Er schloss die Augen und erinnerte sich an das Gefühl der kleinen Hand in seiner. Es war fast so, als könnte er sie wieder spüren, als wäre sie real. Als ob Billy lebte.
Doch Billy lebte nicht.
Billy war gestorben.
Er öffnete die Augen.
Und Billy war fort. Dämmriges Licht sickerte durch die Vorhänge. Er schob Rowenna vorsichtig von seiner Brust und stand auf.
Als Rowenna aufwachte, streckte sie die Hand nach Jeremys Wärme aus.
Sie berührte … nichts.
Erschrocken sprang sie auf. Sie erinnerte sich nur zu gut, dass sie in dem Haus nicht allein sein wollte. Jeremys seltsames Verhalten hatte ihr Angst gemacht. Auf Zehenspitzen ging sie zur Tür, schaute in den Flur und lauschte. Das Haus war ruhig.
„Jeremy?“
Keine Antwort.
War er schon nach Boston gefahren? Ohne sie zu wecken, um sich zu verabschieden?
Sie fluchte laut und ging zurück ins Schlafzimmer. Sie atmete tief durch, erinnerte sich, dass ihre Tasche mit der Unterwäsche zum Wechseln unten war, und fluchte erneut. Sie lief ins Badezimmer, wo sie an den Armaturen herumfummelte, um so rasch wie möglich zu duschen, sich anzuziehen … und zu gehen.
Doch als sie unter das Wasser trat, überkam sie plötzlich eine merkwürdige Ruhe.
Mit der Seife in der Hand lächelte sie.
Billy. Jeremy hatte in seinem Traum mit Billy geredet. Wenn Jeremy einen Geist sah, war es zumindest ein guter Geist. Der Geist eines kleinen Jungen, den er hatte retten wollen, dem er die beste Seite der menschlichen Natur gezeigt hatte.
Sie ermahnte sich, dass sie nicht an die Existenz von Geistern glaubte, nicht wirklich. Und sie gingen nicht in diesem Haus um.
Doch falls es sie gab, nicht nur in der Vorstellung und nicht nur in der Erinnerung, dann wäre Billy eindeutig ein guter Geist.
Nachdem sie ihre Tasche von unten geholt hatte und wieder nach oben gelaufen war, hörte sie ein Klopfen an der Tür.
Sie zog sich rasch an und eilte nach unten, wo sie durch den Spion schaute, bevor sie die Tür öffnete.
Es war Brad.
Jeremy hatte ihren Vorschlag von gestern Abend offenbar aufgegriffen und Brad gebeten, heute Morgen ihren Bodyguard zu spielen.
„Hallo“, begrüßte sie ihn und bat ihn herein.
Weitere Kostenlose Bücher