Ernteopfer
Staatsanwaltschaft beauftrag ter Rechtsmediziner aus Mainz anreisen. Dort hatte an der Johannes Gutenberg-Universität das zuständige Institut für Rechtsmedizin seinen Sitz. Und nur dieses Institut durfte für gerichtliche Zwecke obduzieren.
Ich bedrohte meine Kinder mit lebenslänglichem Fern sehverbot, falls sie das Auto doch vor meiner Rückkehr verlassen sollten. Als Ausnahme ließ ich nur einen unmit telbaren Meteoriteneinschlag gelten.
Mit flauem Gefühl im Magen ging ich durch den parkähnlich angelegten Vorgarten des Friedhofgeländes. Architektonisch hatten die Gebäude nichts zu bieten, funktional, wie man halt so sagt. Es war nicht sehr viel los, wahrscheinlich wurde der Samstagmittag eher zum Einkaufen genutzt als zur Grabpflege oder zum Gedenken an die Altvorderen.
Der Eingang zum Obduktionsraum war mir hinlänglich bekannt. Nach meinem Klingeln machte wenige Augen blicke später der Rechtsmediziner persönlich auf. Er war anscheinend alleine.
»Guten Tag, Herr Palzki. Nett, Sie mal wieder zu se hen.«
Er streckte mir seine rechte behandschuhte Hand hin. Mit einem kurzen Blick vergewisserte ich mich, ob die Handschuhe noch jungfräulich waren.
»Keine Angst, ich habe noch nicht angefangen. Sie wol len doch sicherlich von Anfang an dabei sein und alle De tails sehen?«
Das war ein guter Einstieg, mein Magen blökte bereits wie eine Herde Ziegen in der Hauptbrunftzeit.
Dr. Dr. Enrico Hingstenberg war erst Ende 20 und galt bei seinem Arbeitgeber bereits als Kapazität seines Fachs. Auf ihn passte der oft ironisch gemeinte Text einer Stel lenanzeige: Wir suchen den dynamischen Akademiker mit Promotion, zehn Jahre internationaler Berufserfahrung und einem Höchstalter von 30 Jahren.
Seine schulterblattlangen Haare waren zu einem stren gen Zopf zusammengebunden, der ihm den Spitznamen Leichenzar eingebracht hatte. Auch sein Gehabe erinnerte an den einen oder anderen Modezaren. Seine Brille trug er nur aus optischen Gründen. Diese Gründe lagen aber nicht in seiner Sehkraft begründet, sondern eher in seinem Er scheinungsbild, das er gerne nach außen hin repräsentierte. Dieses Symbol der puren Eitelkeit war daran zu erkennen, dass er im Nahbereich stets unter seinen Glasscheiben her vorschielte, im Fernbereich dagegen darüber hinwegsah. Meistens setzte er seine Brille dann aber ab.
Sein Dreitagebart vervollständigte das Bild. Er trug im mer einen Dreitagebart. Ich fragte mich ernsthaft, wie er das hinkriegte. Eine letzte Eigenschaft sollte nicht ver schwiegen werden. Hingstenberg war schwul. Mir persön lich machte das nichts aus, schließlich outeten sich in den letzten Jahren immer mehr Menschen, gleichgeschlecht liche Interessen zu haben. Letztes Jahr hatte er mir mal gebeichtet, dass er große Probleme hatte, langfristig eine Partnerschaft einzugehen. Jedes Mal genügte alleine die Erwähnung seines Berufes, um ihn wieder zu einem Sin gle werden zu lassen.
»Hier, da haben Sie welche.«
Hingstenberg warf mir ein paar Einweghandschuhe zu.
»Übrigens, Dr. Metzger hat sich bei mir gemeldet und gefragt, ob er mich unterstützen dürfte. Dabei kennt er doch die Bestimmungen genauso gut wie ich. Ich habe ihm zugesichert, dass er eine Kopie meines Gutachtens bekommt. Anscheinend war der Tote sein Patient.«
Ich lachte und erwiderte:
»Höchstens sein Opfer, wenn man das so sagen darf.«
Hingstenberg lachte auch.
»Das kann ich mir gut vorstellen. Und ehrlich gesagt, ich mag ihn ebenfalls nicht. Er ist mir zu schmierig.«
Er schüttelte sich.
»So, dann wollen wir mal anfangen. Ich habe nicht viel Zeit. Ich habe meinem Schwager versprochen, mit ihm heute Abend zu grillen. Ich war sowieso nicht gerade be geistert, extra samstags nach Schifferstadt fahren zu müs sen. Aber aus irgendwelchen Gründen hat der Staatsanwalt bei meinem Chef Druck gemacht.«
Der Leichenzar führte mich nun in einen komplett ge fliesten und fensterlosen Raum. Eine ganze Batterie Leucht stoffröhren durchfluteten hinter ihrem Plexiglasschutz den Raum mit ihrem schattenlosen Licht. Das ganze Mobiliar bestand aus abwaschbarem Aluminium. Zwei große Wasch becken, eine Badewanne sowie ein Wasseranschluss mit ei nem Wasserschlauch befanden sich gegenüber der Tür. An sonsten gab es einige offene Regale, in denen es von chir urgischen Instrumenten nur so wimmelte. Wer einmal in so einem Raum gewesen ist, weiß, dass es hier nicht auf Sterilität ankommt, sondern nur auf Sauberkeit. Sauberkeit bedeutete, dass nach
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